Der Inszenierte Heinse

Bereits in seinem ersten Schreiben - vom 18. November 1770 - liefert Heinse ein ausführliches Bild von sich:
"Ich will thun, was ich kan; und mir die Freyheit nehmen, Ihnen alles zu sagen, was ich von mir weis. Ich muß Ihnen aber vorher gestehen, dass ich mich sehr wenig kenne" [Bd.9, S.3].
Heinses Kontakt zu Gleim wurde durch einen begleitenden Brief Wielands vermittelt und war durch seine finanzielle Notlage motiviert: "ich werd Ihnen wenig - vielleicht ist es desto beßer für mich! - von mir zu meinem Vortheile sagen können, wenn es Herr Wieland nicht gethan hat." [S.3]. Dass seine Bescheidenheit einen inszenatorischen Charakter hatte, zeigt die Diskrepanz zwischen seiner Aussage, über sich wenig sagen zu können, und der Fülle an Informationen, die er im selben Brief lieferte.
"Ich bin noch ein Wilder, der vor dem Glanze schüchtern zurükbebt," [S.3] leitete Heinse seine Vorstellung gegenüber Gleim ein. Manfred Dick wertet diese auch in den folgenden Briefen immer wiederkehrende Inszenierung als "Wilder", der außerhalb der gesellschaftlichen Formen steht, als subtile Abgrenzung vom spielenden und reizenden Sprachstil der Anakreontiker, und somit auch von Gleim als Dichter: "Es mag ein Teil Selbstbescheidung gegenüber dem noch fremden Dichter aus Halberstadt bei dieser leicht schockierenden Selbstcharakteristik im Spiele sein, auch ein Teil Koketterie" [Dick, S.41], denn Heinse schickte mit diesem ersten Brief an Gleim die Manuskripte seiner Sinngedichte und der Musikalischen Dialoge, da "ich endlich gewiß davon überzeugt war, dass ich weder schmeicheln, noch kriechen, noch den Reichen Complimente würde machen können." [Brief vom 18.November 1770, Bd.9, S.8]. Zusammen mit dem Schreiben stellte sich Heinse also auch als Künstler vor; seine Lyrik erschien ihm - und auch Wieland - gut genug, um der Öffentlichkeit vorgestellt zu werden, und zwar in der entsprechenden Aufmachung: "da nun aber die Kaufleute sehr auf das äußere eines Buchs und eines Menschen zu sehen pflegen, so wünsch' ich, daß meine Dialogen ein wenig hübsch und fein gedrukt würden! Der Format und Druk - holländisch Papier und Vignetten fallen nach Standes Gebühr hin weg! - der Dialogen des Herrn Diogenes sollten wohl sehr gut in die Augen fallen?" [S.10]. Heinses Selbstverständnis als Autor wird weiter unten noch diskutiert.
"Ich besorge nicht, daß Sie mich, als einen nothleidenden Scribenten verachten werden; Cervantes, Buttler, Dryden und viele große Dichter, Autoren und Mahler der Griechen, Italiäner, Franzosen und Britten waren es; [...] In Deutschland sind der wohlhabenden Autoren wenig, und es heist einer den andern einen Sakträger, wenn ein armes Männchen [...] den armen Autor einen nothleidenden Scribenten nennt." [S.8f.]. Heinse stellte sich in eine Reihe mit den großen Dichtern und Malern der Vergangenheit, erklärte sich somit zum Künstler par excellence, war ein "Musensohn", der mit der Geburt eine "wirkliche Trübsalen hinwegzaubernde Phantasie erhalten" hatte [S.3f.].
In der Manier Tristram Shandys, des literarischen Helden Laurence Sternes (1760), beschrieb Heinse die Umstände seiner Geburt. Die Zeugung unter freiem Himmel machte ihn zu einem "Kind der Natur" [u.a. Bd.9, S.95, 129], welches sich in seiner Jugend freiwillig den dogmatischen Schullehren entzog, indem es mit 14 Jahren das elterliche Haus verließ. Die Hoffnung, sich in Wissenschaften, Künsten, der Philosophie und in Religion weiterzubilden, wurden von den Schulen enttäuscht, in denen "weiter nichts, als - Theologie gelehret wurde; mein guter Genius gab mir aber im Traum ein, mich so geschwind von diesem Orte zu entfernen, als ich könnte" [S.5]; doch auch das Jurastudium wurde zur Enttäuschung: "Ich kam nach Jena, an einen Ort, wo ieder Profeßor und Magister an Gottes Statt zu sitzen glaubt! Ich mußte daselbst Musen und Grazien, Cythere und Amor und Bacchus und alle entzükende Götter der griechischen Dichter aus meiner Phantasie bannen!" [S.6]
Hier "fällt die höfliche, aber bestimmte Art auf, in der der Wert der unverstellten Natur dem verdorbenen Gesellschaftsleben gegenübergestellt wird. Es ist der Einfluß der Gesellschaftskritik Rousseaus spürbar." [Dick, S.41]:
"Verzeyhen Sie's einem Wilden, daß er nicht französische Contredänze hüpfen kan! Ich muß die Sprache meiner Natur reden, wenn ich die Sprache der Heuchler reden will, so rede sie ich nicht besser, als ein Franzose das teutsche." [Brief vom 18. November 1770, Bd.9, S.9f.].
Manfred Dick bemerkt hierzu: "Die Rückbesinnung auf die eigene ursprüngliche Natürlichkeit bewirkt eine höhere Freiheit, weil hier etwas Unbedingtes gegeben ist, das durch keine von außen aufgetragene Lebensform überholt oder relativiert werden kann." [S.42]

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Der Wegbegleiter Heinse

Heinses soziale Kontakte sind fast ausschließlich Männerkontakte. Wolfgang von Wangenheim und Manfred Dick weisen ausführlich darauf hin, dass seine Biographie nicht von weiblichen, sondern von männlichen Bezugspersonen getragen wird.
Über seinen Universitätsfreund Dietrich Wilhelm Andreä schrieb Heinse am 23.September 1771: "Dieser war der beste Freund, den ich in Erfurth hatte. Er ist ein iunger Mann von Genie" [Bd.9, S.34]. Dass Heinse dem Geschichts- und Philosophiestudenten großes Vertrauen entgegenbrachte, zeigt die Bemerkung, dass Andreä allezeit wisse, wo Heinse sei.
Der zweite Universitätsfreund ist Philipp Karl Diehl(e) aus Frankfurt, zu dem Heinse nach Beendigung der Mitarbeit an dem Frauenjournal Iris überzusiedeln gedenkt. Ein intensiverer Einblick in die Freundschaft zu Andreä und Diehl bleibt durch den fast vollständigen Verlust der Briefe aus der Jugendzeit verwehrt.
Zu Heinses geistigem Vorbild und wohl auch finanziellem Gönner wurde Friedrich Just Riedel (1742 - 1785), dessen Vorlesungen für Ästhetik Heinses Interesse weckten. Der nur vier Jahre ältere Riedel wurde im Zuge der Universitätsreform 1768 nach Erfurt gerufen, wohin Heinse ihm folgte [vgl. Dick, S.68ff.]. Ein Jahr später erhielt dort Christoph Martin Wieland (1733 - 1813), dessen Einfluss auf Heinse beträchtlich werden sollte, einen Lehrstuhl für Philosophie. Durch Wieland wurde Heinse mit dem aktuellen Stand der deutschen und französischen Aufklärung vertraut und fand ersten Eingang in die Kreise der deutschen Aufklärung. Wieland erkannte Heinses bis dahin nur in vereinzelten Gedichten zutage getretenes literarisches Talent und vermittelte ihm die finanzielle Unterstützung durch Gleim.
Aufgrund seines existentiellen Geldmangels sah Heinse sich 1771 gezwungen, in die Dienste der vagabundierenden ehemaligen Offiziere von Liebenstein und von Schmettau zu treten, die sich mit betrügerischen Lotteriespielen ihren Unterhalt verdienten. Heinse, der sich hauptsächlich mit Gelehrten und Künstlern umgab (der Briefkontakt zu Wieland und Gleim bestand auch weiterhin), war bemüht, sich in den Briefen an Gleim von dem unmoralischen Verhalten der Offiziere abzugrenzen: "ich kan die Menschen nicht betrügen und nicht betrügen helfen." [Bd.9, S.37]. Unter dem Einfluss Liebensteins entstanden mehrere Übersetzungen, von denen Petrons Satyricon für einen Skandal sorgte, in folge dessen Wieland sich aus moralischen und charakterlichen Gründen von Heinse distanzierte, der - mit dem Ruf eines leichtsinnigen Provokateurs - gezwungen war, die folgenden Jahre unter dem von Gleim vorgeschlagenen Pseudonym "Rost" leben und arbeiten musste.
Als Liebenstein für Heinses Versorgung nicht mehr aufkommen konnte, überlegte Heinse kurz, und nicht mit großem Ernst, selbst in den Militärdienst zu treten.
Gleim besorgte ihm kurz darauf die Stelle eines Hauslehrers bei der Familie von Massow. Hier traf Heinse eine der wenigen Frauen, über die er sich in seinen Briefen an Gleim äußert: die Ehefrau seines Brotherrn: Mit ihr konnte er in der Quedlinburger "Verbannung" [Brief vom 15.Februar 1773, Bd.9, S.116] intellektuelle Gespräche über Musik und Literatur führen.
Durch Gleim schloß Heinse auch Freundschaft mit Klamer Schmidt, Johannes von Müller und den Brüdern Johann Georg und Friedrich Heinrich Jacobi sowie dessen Ehefrau Betty. Heinses in unzähligen Briefen (auch Gleim gegenüber) so genannter "geliebter Fritz" avancierte bereits in den Jahren vor der Italienreise zum vielleicht engsten Vertrauten. Er lieferte die finanzielle Grundlage für den dreijährigen Aufenthalt in Italien. Im Umkreis des Ehepaars Jacobi traf Heinse mit Goethe, Lavater, Georg Forster und Samuel Thomas von Soemmering zusammen, der nach seinem Aufenthalt in Italien zur zentralen Figur in Heinses Leben wurde. Von den geistvollen Damen ragte besonders die Schriftstellerin Sophie von La Roche heraus, mit der Heinse auch Briefe austauschte.
Mit Jacobis älterem Bruder Johann Georg verband Heinse vor allem die Arbeit an der Damenzeitschrift Iris; die Freundschaft wurde allerdings durch ausstehende Zahlungen Jacobis überschattet, der ihn nicht gut behandelt hätte, wie Gleim aus Heinses Brief vom 3.Mai 1776 erfuhr: "Jacobi muß mir nothwendig itzt den Rest vom ersten Jahre bezahlen, und damit trag' ich meine Schulden ab, und behalte so viel übrig nebst meiner schon gemachten Arbeit, daß ich ein halbes Jahr beynah davon wirthschaften kann." [Bd.9, S.272].
Während seiner Italienreise knüpfte Heinse in der deutschen Künstlerkolonie in Rom, wo auch Klinger und Kobell lebten, Kontakte zu dem Maler Friedrich Müller.
1786 vermittelte ihm Fritz Jacobi eine Stelle als Vorleser beim Kurfürsten und Erzbischof von Mainz, der ihn kurz darauf auch zum Leiter seiner Privatbibliothek und zum Hofrat ernannte. Georg Forster, der seit 1788 ebenfalls als Bibliothekar in Mainz arbeitete, beschrieb Heinse als "zuweilen ein Misanthrop und gewöhnlich immer Misogyn" [zitiert in: Wangenheim, S.296]. Dies und das Geständnis des jungen Heinse gegenüber Wieland, dass er die Liebe zwischen Mann und Frau, die in seinem Werk eine so große Rolle spielt "- Sie können es gewiß glauben, ob es gleich unbegreiflich seyn wird, und ob ich gleich in dieser argen Welt schon 24 Jahre lebe - noch nicht genossen" hat [Brief vom 2.Januar 1774, Bd.9, S.180], sind immer wieder als Indizien für homoerotische Vorlieben gedeutet worden.
Durchsucht man Heinses Briefe an Gleim nach homoerotischen Mustern, lässt sich eine hohe Frequenz solcher Deutungspunkte festmachen. Eine kurze Betrachtung von Heinses zweitem Brief aus Rom [vom 30.Juni1782] soll an dieser Stelle genügen: Anhand der verschiedenen Antinous-Köpfe spekulierte Heinse über homophile Neigungen bei Kaiser Hadrian und Alexander dem Großen [vgl. Bd.10, S.178ff.]. Unter Bettelmönchen traf er zudem einen der schönsten Jünglinge, "die ich je in Italien sah, einen wahren Adonis mit großen schwarzen Feueraugen und Rosenlippen voll schwärmerischer Zärtlichkeit, zum verlieben für Alcinen und Bradamanten, und keine Beute für solche Raubvögel, die sich Passionarj nennen." [Bd.10, S.189]. Wie Antinous wurde auch der Mönch zum androgynen Ideal stilisiert, welches Heinses gesamtes Schaffen prägte [vgl. dazu die Aufsätze von Pfotenhauer und Wangenheim].
Zudem waren Heinses auffallend wenige Beschreibungen von Mädchen und Frauen sehr zurückhaltend und stets auf eine geistige Ebene gehoben: Aus Düsseldorf schrieb er am 3.Mai 1776: "Wir haben ein Mädchen hier, das einen so vortrefflichen Geist, eine so zarte lebendige starke Empfindlichkeit hat, als ich noch bey keiner von ihrem Geschlecht erkannt." [Bd.9, S.274]. Hergemöller weist ausdrücklich darauf hin, dass sich keine Belege dafür beibringen lassen, dass Heinse jemals sexuellen Kontakt mit Frauen gehabt hätte [S.339].
Ebensowenig kann aber, meines Erachtens, über Heinses körperlichen Kontakt mit Männern ausgesagt werden: Die Sprache des empfindsamen Freundschaftskultes erlaubt schlechthin mehr als Spekulationen.

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Der Bildungsbürger Heinse

Festzuhalten bleibt nach der Lektüre der Briefe an Gleim, das Heinses Leben stark auf männliche Bezugspersonen ausgerichtet war, welche den Idealen des Bildungsbürgertums verpflichtet waren. Er entfloh mit 14 Jahren der dörflichen und häuslichen Enge, um nach einem kurzen Wanderleben seine Reifeprüfung nachzuholen und sich an der juristischen Fakultät in Jena zu inskribieren. Nur einmal noch kehrte er in seinen durch einen Brand zerstörten Heimatort zurück, hielt es dort aber nur kurze Zeit aus: "Unmöglich kann ich lange in dieser Gegend bleiben; der Schmerz über das Elend meiner Nebenmenschen wird mir täglich unausstehlicher, da ich ihnen mit nichts, als Trost und Rath helfen kann. Alles ist in Verzweiflung." [Brief vom 7.August 1772, Bd.9, S.80]. Bemerkenswert ist die Beschreibung seines Vaters: "Nichts hat mein Vater gerettet, als sein Clavier und einige von seinen liebsten Büchern." [S.79]. Diese Bemerkung lässt auf ein kultiviertes Elternhaus schließen, in welchem geistige und kulturelle Betätigung nicht verpönt, sondern im Gegenteil gar erwünscht erschien. Heinse rehabilitierte sich mit der Rückkehr zu seinen familiären Wurzeln zugleich von der rufschädigenden Reise mit den beiden Offizieren.
Im selben Brief präsentierte sich Heinse als "armer Thüringer Jean Jaques" [S.81f.], als Rousseau also, dessen Konzeption von Erziehung Heinse in seiner eigenen Lehrtätigkeit anzuwenden versuchte [vgl. auch den Brief vom 6.Dezember 1772, Bd.9, S.95f.]
Seine Briefe an Gleim offenbaren ein hohes Maß an Bildung und künstlerischem Talent:
"Ich nahm also meine Flöte, und blies ihm [Valentin von Massow] eine ganze Stunde lang die einschläfrigsten Stückchen vor, bis er endlich gleich dem alten Argus hinsank und einschlummerte", schrieb Heinse am 6.November 1772 aus Halberstadt. Dass er neben der Flöte noch sehr gut Kalvier zu spielen verstand, zeigt sein Brief vom 8.September 1775: "Bey meinem Daseyn zu Hanover hielt man mich für einen Hexenmeister im Klavierspielen" [Bd.9, S.251]. Sein umfassendes musikalisches Verständnis offenbarte sich zudem in seinem 1796 fertiggestellten Roman Hildegard von Hohenthal.
Heinse beherrschte zumindest die französische Sprache, Latein und das Altgriechische; das Übersetzen fiel ihm nicht schwer: "Der Petron ist leider! schon beynahe fertig; allzuschwer ist mir die Uebersetzung noch nicht geworden, denn ich habe binnen zehn Tagen zwey Drittel in Prose und Reime übersezt" [Brief vom 18.Februar 1772, Bd.9, S.53]. Das befreyte Jerusalem Torquato Tassos war "eine leichte Arbeit" für ihn [Brief vom 8.September 1775, Bd.9, S.252]; wenn der Ariost ihm "oft zu hart auf dem Nacken" lag [Brief vom 7.März 1780], rührte es aus Heinses Anspruch, die Übersetzung so vollkommen wie möglich zu machen, nicht jedoch an einer eigentlichen Mühe, die tote Sprache zu erfassen.
Er verfügte über eine umfassende Allgemeinbildung, was sowohl geistes- als auch naturwissenschaftliche Kenntnisse anbetraf. Seine Briefe an Gleim sind voller Anspielungen auf antike Literatur und Mythen, er benennt unter anderem Homer, Petrarca, Horaz und Cicero, die Gleichsetzung Gleims mit Anakreon verstand sich von selbst, orientierte sich Gleims Lyrik doch stark an dem altgriechischen Lyriker aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Unter Anakreontik versteht man jene welt- und lebensverherrlichende Dichtung des Rokoko, in der die Themen Liebe, Wein, Natur, Freundschaft und Geselligkeit immer wieder neu arrangiert wurden. Heinses Briefe spiegeln also zugleich auch die aktuellen literarischen Diskussionen: Auf Laurence Sternes Tristram Shandy (1760) nahm er immer wieder bezug, Wieland und Goethe, Klinger, Lenz oder Hölderlin und Karl Philipp Moritz sind nur wenige Namen die Heinse Gleim gegenüber erwähnte. Die sogenannten Düsseldorfer Gemäldebriefe zeugen von Heinses umfassenden kunstgeschichtlichem und ästhetischen Verständnis. Anders als Lessing, der in seinem Laokoon (1766) die bildenden Künste nicht unterschieden hatte, aber auch spezieller als Herder es in seiner Abhandlung über die Plastik (1772/1778) getan hatte, stellte Heinse hier sein differenziertes ästhetisches Programm vor. Eine genaue Analyse muss an anderer Stelle erfolgen, es sei jedoch angemerkt, dass die Düsseldorfer Gemäldebriefe zu den bedeutenden ästhetischen Schriften des 18.Jahrhunderts gehören. In Italien bekam Heinse die Möglichkeit, die antiken Statuen und die Plastiken der großen Meister der Renaissance zu sehen. In seinem Brief von 30.Juni 1782 berichtete er Gleim: "Für die bildenden Künste bleibt es [Rom] ohnedem die Hauptstadt der Welt, mit welcher keine andre kann verglichen werden." [Bd.10, S.165]. In diesem Brief erkennt man, dass Heinse sein Kunstverständnis umfassend erweitern konnte, er setzte sich kritisch mit den Gedanken Johann Joachim Winckelmanns (1717 - 1767) auseinander und zweifelte gängige Meinungen der Kunsttheoretiker und Archäologen an.
Als letzter Aspekt soll hier Heinses Freude am Schachspiel hervorgehoben werden. "In Fritzen und mich ist der Schachspielgeist wieder gefahren, wir sitzen oft darüber wie stumm und taub", schrieb Heinse am 14.September 1779. Bereits zwei Jahre zuvor ereiferte er sich mit Friedrich Maximilian Klinger über die Vor- und Nachteile des Schachspiels. Als sein letzter Roman erschien 1803, im Jahre seines Todes, Anastasia und das Schachspiel.

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Der Autor Heinse

Eng verbunden mit Heinses literarischem Schaffen, mit dem Schaffen von Kunst überhaupt, ist die Ende des 18.Jahrhundert aufkommende Diskussion um die Frage der Autorschaft, eine Frage, die in den Briefen an Gleim immer wieder auftaucht.
"Das Paradigma von Autorschaft, wie es sich im Zuge der Genieästhetik gegen die klassizistische Regelpoetik behauptete, reduzierte Kontingenz, indem es zwischen bloßen ‚Nachahmern' und ‚Original-Scribenten', schlichtem Geschreibsel und schöner Literatur unterschied." [Schütz/Wegmann, S.63]. Zudem verknüpft sich mit dem Konzept von Autorschaft der Gedanke einer Verantwortung, die der Schreibende für seine Texte zu übernehmen hat. Heinse hat genau dies durch seine Petronius-Übersetzung erfahren müssen. Die Begebenheiten des Enkolp sorgten 1772 für einen Skandal, zumal Heinse den frivolen Text um ein Vorwort bereicherte, in welchem er die freie Liebe nach griechischem Vorbild verteidigte. In Folge des gewagten Unternehmens musste er unter dem Pseudonym Rost leben, um weitere Anstellung zu finden. Neben der moralischen Zensur gab es auch staatliche Zensurbehörden, deren Richtlinien von Land zu Land unterschiedliche waren. Als Heinse seinen ersten Roman Gleim übersandte, bemerkte er:
"Sie wollen es in Leipzig drucken lassen, aber wird es der Censur daselbst entschlüpfen können? Für die Leipziger sind ungeheure, entsetzliche Gedanken darinnen" [Brief vom 15.Februar 1773, Bd.9, S.117].
Zehn Tage später:
"Ich bin in allem Ernst besorgt, daß diese Eleusinischen Geheimniße die Leipziger Censur nicht aus halten, und weil ich befürchte, daß der Versuch des wegen zu viel Zeit kosten möge, so bitt ich Sie mit dem freundlichsten zärtlichsten Handkuße, sie in Berlin drucken zu laßen." [Brief vom 25.Februar 1773, Bd.9, S.119]
Heinse war sich einer möglichen Reaktion auf seinen Text bewusst, zugleich zeigt sich hier sein Verständnis von Autorschaft: Immer wieder bezeichnete er seine Werke als "Töchter" oder die "eigenen Geisteskinder", das Geschriebene war - nach seinem Verständnis Eigentum des Schreibenden.
Texte jedoch, die Heinse aus einer finanziellen Notlage heraus schrieb, wurden ihm schnell merkwürdig fremd. Zu den Musikalischen Dialogen, die erst nach seinem Tod erscheinen sollten, bemerkte er am 23.August 1771:
"Ich weiß es nur zu gut, daß sie in aller Absicht eine zu iugendliche Arbeit sind. Ich verfertigte sie in der größten Noth, um durch sie, wenn sie gedruckt wären, von meinen reichen Landleuten Lebensmittel zu erhalten, welches auch ohne allen Zweifel würde erfolgt seyn. Halten Sie einen Theil davon für würdig, im Drucke zu erscheinen, so streichen Sie am Ende der Vorrede meinen Namen aus, denn auch dieser wurde in der Absicht beygesezt. Ich würde die Hälfte wegstreichen, wenn ich sie wieder durch sehen sollte, iezt aber habe ich leider keine Zeit und auch keine Laune dazu." [Bd.9, S.25f.]
Der Spaß am Befreiten Jerusalem wurde Heinse durch zu geringe Lohnaussichten verdorben:
"Dem Tasso hab' ich den Abschied gegeben. Wenn mich unser armseeliges Publikum zwingen will, ihm denselben für Buchhändlerlohn zu überlassen, so mach' ich lieber selbst Kinder, da hab' ich doch noch Freude dabey." [Brief vom 3.Mai 1776, Bd.9, S.270]
Heinse hatte versucht, die Übersetzung über Abonnements herauszugeben, sah diesen Plan jedoch scheitern und sich gezwungen, die Eigentumsrechte - eventuell mit Gewinnbeteiligung - an den Verleger Hellwing zu verkaufen [vgl. Briefe vom 28.März 1775 und 15.Februar 1776, Bd.9, S.241 und 263].
Es gibt wohl keinen Autor seiner Zeit, der sich über Eingriffe in seine Werke erboster zeigte als Heinse. Über den Abdruck seines ersten Düsseldorfer Gemäldebriefs in der Oktoberausgabe des Teutschen Merkurs 1776 schrieb er am 8.November desselben Jahres "im Verdruß über einige durch Druckfehler jämmerlich verunstaltete Stellen":
"Die Correctur des Merkur muß ganz kläglich bestellt seyn, da in nicht drey völligen Bogen 20 abscheuliche Druckfehler sich befinden, worunter verschiedene so Gottserbärmlich garstig sind, daß sie einem das Schreiben verreden machen, da sie gänzlich den ersten Eindruck verderben. Es hat mir lange Zeit nichts so weh gethan, so ins Herz mir gestochen, als dieß hässliche Ungeziefer, und ich möchte ich weiß nicht lieber was dafür gelitten haben. Das schlimmste dabey ist noch, daß Meister Wieland auf die Ehre seines Merkurius so sehr erpicht ist, dass er ihn nicht einmahl eines Druckfehlers beschieden wissen will; und ich werde bitten und betteln müssen, und Fürsprache gebrauchen, damit er nur die 4 infamsten davon anzuzeigen für gut befinde." [Bd.9, S.324f.]
Neben den Druckfehlern war es besonders die "Seuche und Pestilenz solcher Verbeßerungen" [Bd.9, S.327], die Heinses Unmut erregten, da Wieland eigenmächtig Veränderungen an den Texten vornahm. Heinse bat Gleim, bei allen Verbesserungsvorschlägen, noch seine Bestätigung einzuholen, bevor das Werk in Druck ging.
"Der Gedanke, für Journale zu schreiben ist mir Mord und Todtschlag in der Seele geworden. Jeder Herausgeber wills haben, so wie ihm e b e n der Kopf steht, meynend dem Publikum stünd er auch so: und man muß ausserdem seinen Geisteskindern meistens dabey die Nase pletschen, oder sie wohl gar ohne Leben, Glied vor Glied abgelöst, hergeben zum Mittagsfutter für die abonierten Krähen und Raben." [Brief vom 30.Dezember 1777, Bd.9, S.375]
Es ist auffällig, dass Heinse, immer wenn er durch eine feste Anstellung finanziell abgesichert war, das Artikelschreiben mied und sich in größere Projekte vertiefte. Das Entstehen und das Erscheinen seiner Romane war ihm nur unter solchen Bedingungen möglich.

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