Der
Inszenierte Heinse
Bereits
in seinem ersten Schreiben - vom 18. November 1770 - liefert Heinse
ein ausführliches Bild von sich:
"Ich will thun, was ich kan; und mir die Freyheit nehmen,
Ihnen alles zu sagen, was ich von mir weis. Ich muß Ihnen aber
vorher gestehen, dass ich mich sehr wenig kenne" [Bd.9, S.3].
Heinses Kontakt zu Gleim wurde durch einen begleitenden Brief Wielands
vermittelt und war durch seine finanzielle Notlage motiviert: "ich
werd Ihnen wenig - vielleicht ist es desto beßer für mich!
- von mir zu meinem Vortheile sagen können, wenn es Herr Wieland
nicht gethan hat." [S.3]. Dass seine Bescheidenheit einen
inszenatorischen Charakter hatte, zeigt die Diskrepanz zwischen seiner
Aussage, über sich wenig sagen zu können, und der Fülle
an Informationen, die er im selben Brief lieferte.
"Ich bin noch ein Wilder, der vor dem Glanze schüchtern
zurükbebt," [S.3] leitete Heinse seine Vorstellung gegenüber
Gleim ein. Manfred Dick wertet diese auch in den folgenden Briefen
immer wiederkehrende Inszenierung als "Wilder", der
außerhalb der gesellschaftlichen Formen steht, als subtile Abgrenzung
vom spielenden und reizenden Sprachstil der Anakreontiker, und somit
auch von Gleim als Dichter: "Es mag ein Teil Selbstbescheidung
gegenüber dem noch fremden Dichter aus Halberstadt bei dieser
leicht schockierenden Selbstcharakteristik im Spiele sein, auch ein
Teil Koketterie" [Dick, S.41], denn Heinse schickte mit diesem ersten Brief an Gleim die Manuskripte seiner
Sinngedichte und der Musikalischen Dialoge, da "ich endlich
gewiß davon überzeugt war, dass ich weder schmeicheln,
noch kriechen, noch den Reichen Complimente würde machen können."
[Brief vom 18.November 1770, Bd.9, S.8]. Zusammen mit dem Schreiben
stellte sich Heinse also auch als Künstler vor; seine Lyrik erschien
ihm - und auch Wieland - gut genug, um der Öffentlichkeit vorgestellt
zu werden, und zwar in der entsprechenden Aufmachung: "da
nun aber die Kaufleute sehr auf das äußere eines Buchs
und eines Menschen zu sehen pflegen, so wünsch' ich, daß
meine Dialogen ein wenig hübsch und fein gedrukt würden!
Der Format und Druk - holländisch Papier und Vignetten fallen
nach Standes Gebühr hin weg! - der Dialogen des Herrn Diogenes
sollten wohl sehr gut in die Augen fallen?" [S.10]. Heinses
Selbstverständnis als Autor wird weiter unten noch diskutiert.
"Ich besorge nicht, daß Sie mich, als einen nothleidenden
Scribenten verachten werden; Cervantes, Buttler, Dryden und viele
große Dichter, Autoren und Mahler der Griechen, Italiäner,
Franzosen und Britten waren es; [...] In Deutschland sind der wohlhabenden
Autoren wenig, und es heist einer den andern einen Sakträger,
wenn ein armes Männchen [...] den armen Autor einen nothleidenden
Scribenten nennt." [S.8f.]. Heinse stellte sich in eine Reihe
mit den großen Dichtern und Malern der Vergangenheit, erklärte
sich somit zum Künstler par excellence, war ein "Musensohn",
der mit der Geburt eine "wirkliche Trübsalen hinwegzaubernde
Phantasie erhalten" hatte [S.3f.].
In der Manier Tristram Shandys, des literarischen Helden Laurence
Sternes (1760), beschrieb Heinse die Umstände seiner Geburt.
Die Zeugung unter freiem Himmel machte ihn zu einem "Kind
der Natur" [u.a. Bd.9, S.95, 129], welches sich in seiner
Jugend freiwillig den dogmatischen Schullehren entzog, indem es mit 14 Jahren
das elterliche Haus verließ. Die Hoffnung, sich in Wissenschaften,
Künsten, der Philosophie und in Religion weiterzubilden, wurden
von den Schulen enttäuscht, in denen "weiter nichts,
als - Theologie gelehret wurde; mein guter Genius gab mir aber im
Traum ein, mich so geschwind von diesem Orte zu entfernen, als ich
könnte" [S.5]; doch auch das Jurastudium wurde zur Enttäuschung:
"Ich kam nach Jena, an einen Ort, wo ieder Profeßor
und Magister an Gottes Statt zu sitzen glaubt! Ich mußte daselbst
Musen und Grazien, Cythere und Amor und Bacchus und alle entzükende
Götter der griechischen Dichter aus meiner Phantasie bannen!"
[S.6]
Hier "fällt die höfliche, aber bestimmte Art auf, in
der der Wert der unverstellten Natur dem verdorbenen Gesellschaftsleben
gegenübergestellt wird. Es ist der Einfluß der Gesellschaftskritik
Rousseaus spürbar." [Dick, S.41]:
"Verzeyhen Sie's einem Wilden, daß er nicht französische
Contredänze hüpfen kan! Ich muß die Sprache meiner
Natur reden, wenn ich die Sprache der Heuchler reden will, so rede
sie ich nicht besser, als ein Franzose das teutsche." [Brief
vom 18. November 1770, Bd.9, S.9f.].
Manfred Dick bemerkt hierzu: "Die Rückbesinnung auf die
eigene ursprüngliche Natürlichkeit bewirkt eine höhere
Freiheit, weil hier etwas Unbedingtes gegeben ist, das durch keine
von außen aufgetragene Lebensform überholt oder relativiert
werden kann." [S.42]
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Der
Wegbegleiter Heinse
Heinses
soziale Kontakte sind fast ausschließlich Männerkontakte.
Wolfgang von Wangenheim und Manfred Dick weisen ausführlich darauf
hin, dass seine Biographie nicht von weiblichen, sondern von männlichen
Bezugspersonen getragen wird.
Über seinen Universitätsfreund Dietrich Wilhelm Andreä
schrieb Heinse am 23.September 1771: "Dieser war der beste
Freund, den ich in Erfurth hatte. Er ist ein iunger Mann von Genie"
[Bd.9, S.34]. Dass Heinse dem Geschichts- und Philosophiestudenten
großes Vertrauen entgegenbrachte, zeigt die Bemerkung, dass
Andreä allezeit wisse, wo Heinse sei.
Der zweite Universitätsfreund ist Philipp Karl Diehl(e) aus Frankfurt,
zu dem Heinse nach Beendigung der Mitarbeit an dem Frauenjournal Iris überzusiedeln
gedenkt. Ein intensiverer Einblick in die Freundschaft zu Andreä
und Diehl bleibt durch den fast vollständigen Verlust der Briefe
aus der Jugendzeit verwehrt.
Zu Heinses geistigem Vorbild und wohl auch finanziellem Gönner
wurde Friedrich Just Riedel (1742 - 1785), dessen Vorlesungen für
Ästhetik Heinses Interesse weckten. Der nur vier Jahre ältere
Riedel wurde im Zuge der Universitätsreform 1768 nach Erfurt
gerufen, wohin Heinse ihm folgte [vgl. Dick, S.68ff.]. Ein Jahr später
erhielt dort Christoph Martin Wieland (1733 - 1813), dessen Einfluss
auf Heinse beträchtlich werden sollte, einen Lehrstuhl für
Philosophie. Durch Wieland wurde Heinse mit dem aktuellen Stand der
deutschen und französischen Aufklärung vertraut und fand
ersten Eingang in die Kreise der deutschen Aufklärung. Wieland
erkannte Heinses bis dahin nur in vereinzelten Gedichten zutage getretenes
literarisches Talent und vermittelte ihm die finanzielle Unterstützung
durch Gleim.
Aufgrund seines existentiellen Geldmangels sah Heinse sich 1771 gezwungen,
in die Dienste der vagabundierenden ehemaligen Offiziere von Liebenstein
und von Schmettau zu treten, die sich mit betrügerischen Lotteriespielen
ihren Unterhalt verdienten. Heinse, der sich hauptsächlich mit
Gelehrten und Künstlern umgab (der Briefkontakt zu Wieland und
Gleim bestand auch weiterhin), war bemüht, sich in den Briefen
an Gleim von dem unmoralischen Verhalten der Offiziere abzugrenzen:
"ich kan die Menschen nicht betrügen und nicht betrügen
helfen." [Bd.9, S.37]. Unter dem Einfluss Liebensteins entstanden
mehrere Übersetzungen, von denen Petrons Satyricon für
einen Skandal sorgte, in folge dessen Wieland sich aus moralischen
und charakterlichen Gründen von Heinse distanzierte, der - mit
dem Ruf eines leichtsinnigen Provokateurs - gezwungen war, die folgenden
Jahre unter dem von Gleim vorgeschlagenen Pseudonym "Rost"
leben und arbeiten musste.
Als Liebenstein für Heinses Versorgung nicht mehr aufkommen konnte,
überlegte Heinse kurz, und nicht mit großem Ernst, selbst
in den Militärdienst zu treten.
Gleim besorgte ihm kurz darauf die Stelle eines Hauslehrers bei der
Familie von Massow. Hier traf Heinse eine der wenigen Frauen, über
die er sich in seinen Briefen an Gleim äußert: die Ehefrau
seines Brotherrn: Mit ihr konnte er in der Quedlinburger "Verbannung"
[Brief vom 15.Februar 1773, Bd.9, S.116] intellektuelle Gespräche
über Musik und Literatur führen.
Durch Gleim schloß Heinse auch Freundschaft mit Klamer Schmidt,
Johannes von Müller und den Brüdern Johann Georg und Friedrich
Heinrich Jacobi sowie dessen Ehefrau Betty. Heinses in unzähligen
Briefen (auch Gleim gegenüber) so genannter "geliebter Fritz"
avancierte bereits in den Jahren vor der Italienreise zum vielleicht
engsten Vertrauten. Er lieferte die finanzielle Grundlage für
den dreijährigen Aufenthalt in Italien. Im Umkreis des Ehepaars
Jacobi traf Heinse mit Goethe, Lavater, Georg Forster und Samuel Thomas
von Soemmering zusammen, der nach seinem Aufenthalt in Italien zur
zentralen Figur in Heinses Leben wurde. Von den geistvollen Damen
ragte besonders die Schriftstellerin Sophie von La Roche heraus, mit
der Heinse auch Briefe austauschte.
Mit Jacobis älterem Bruder Johann Georg verband Heinse vor allem
die Arbeit an der Damenzeitschrift Iris; die Freundschaft wurde allerdings
durch ausstehende Zahlungen Jacobis überschattet, der ihn nicht
gut behandelt hätte, wie Gleim aus Heinses Brief vom 3.Mai 1776
erfuhr: "Jacobi muß mir nothwendig itzt den Rest vom
ersten Jahre bezahlen, und damit trag' ich meine Schulden ab, und
behalte so viel übrig nebst meiner schon gemachten Arbeit, daß
ich ein halbes Jahr beynah davon wirthschaften kann." [Bd.9,
S.272].
Während seiner Italienreise knüpfte Heinse in der deutschen Künstlerkolonie
in Rom, wo auch Klinger und Kobell lebten, Kontakte zu dem Maler Friedrich Müller.
1786 vermittelte ihm Fritz Jacobi eine Stelle als Vorleser beim Kurfürsten
und Erzbischof von Mainz, der ihn kurz darauf auch zum Leiter seiner
Privatbibliothek und zum Hofrat ernannte. Georg Forster, der seit
1788 ebenfalls als Bibliothekar in Mainz arbeitete, beschrieb Heinse
als "zuweilen ein Misanthrop und gewöhnlich immer Misogyn"
[zitiert in: Wangenheim, S.296]. Dies und das Geständnis des
jungen Heinse gegenüber Wieland, dass er die Liebe zwischen Mann
und Frau, die in seinem Werk eine so große Rolle spielt "-
Sie können es gewiß glauben, ob es gleich unbegreiflich
seyn wird, und ob ich gleich in dieser argen Welt schon 24 Jahre lebe
- noch nicht genossen" hat [Brief vom 2.Januar 1774, Bd.9,
S.180], sind immer wieder als Indizien für homoerotische Vorlieben
gedeutet worden.
Durchsucht man Heinses Briefe an Gleim nach homoerotischen Mustern,
lässt sich eine hohe Frequenz solcher Deutungspunkte festmachen.
Eine kurze Betrachtung von Heinses zweitem Brief aus Rom [vom 30.Juni1782]
soll an dieser Stelle genügen: Anhand der verschiedenen Antinous-Köpfe
spekulierte Heinse über homophile Neigungen bei Kaiser Hadrian
und Alexander dem Großen [vgl. Bd.10, S.178ff.]. Unter Bettelmönchen
traf er zudem einen der schönsten Jünglinge, "die
ich je in Italien sah, einen wahren Adonis mit großen schwarzen
Feueraugen und Rosenlippen voll schwärmerischer Zärtlichkeit,
zum verlieben für Alcinen und Bradamanten, und keine Beute für
solche Raubvögel, die sich Passionarj nennen." [Bd.10,
S.189]. Wie Antinous wurde auch der Mönch zum androgynen Ideal
stilisiert, welches Heinses gesamtes Schaffen prägte [vgl. dazu
die Aufsätze von Pfotenhauer und Wangenheim].
Zudem waren Heinses auffallend wenige Beschreibungen von Mädchen
und Frauen sehr zurückhaltend und stets auf eine geistige Ebene
gehoben: Aus Düsseldorf schrieb er am 3.Mai 1776: "Wir
haben ein Mädchen hier, das einen so vortrefflichen Geist, eine
so zarte lebendige starke Empfindlichkeit hat, als ich noch bey keiner
von ihrem Geschlecht erkannt." [Bd.9, S.274]. Hergemöller
weist ausdrücklich darauf hin, dass sich keine Belege dafür
beibringen lassen, dass Heinse jemals sexuellen Kontakt mit Frauen
gehabt hätte [S.339].
Ebensowenig kann aber, meines Erachtens, über Heinses körperlichen
Kontakt mit Männern ausgesagt werden: Die Sprache des empfindsamen
Freundschaftskultes erlaubt schlechthin mehr als Spekulationen.
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Der
Bildungsbürger Heinse
Festzuhalten
bleibt nach der Lektüre der Briefe an Gleim, das Heinses Leben
stark auf männliche Bezugspersonen ausgerichtet war, welche den
Idealen des Bildungsbürgertums verpflichtet waren. Er entfloh
mit 14 Jahren der dörflichen und häuslichen Enge, um nach
einem kurzen Wanderleben seine Reifeprüfung nachzuholen und sich
an der juristischen Fakultät in Jena zu inskribieren. Nur einmal
noch kehrte er in seinen durch einen Brand zerstörten Heimatort
zurück, hielt es dort aber nur kurze Zeit aus: "Unmöglich
kann ich lange in dieser Gegend bleiben; der Schmerz über das
Elend meiner Nebenmenschen wird mir täglich unausstehlicher,
da ich ihnen mit nichts, als Trost und Rath helfen kann. Alles ist
in Verzweiflung." [Brief vom 7.August 1772, Bd.9, S.80].
Bemerkenswert ist die Beschreibung seines Vaters: "Nichts
hat mein Vater gerettet, als sein Clavier und einige von seinen liebsten
Büchern." [S.79]. Diese Bemerkung lässt auf ein
kultiviertes Elternhaus schließen, in welchem geistige und kulturelle
Betätigung nicht verpönt, sondern im Gegenteil gar erwünscht
erschien. Heinse rehabilitierte sich mit der Rückkehr zu seinen
familiären Wurzeln zugleich von der rufschädigenden Reise
mit den beiden Offizieren.
Im selben Brief präsentierte sich Heinse als "armer Thüringer
Jean Jaques" [S.81f.], als Rousseau also, dessen Konzeption
von Erziehung Heinse in seiner eigenen Lehrtätigkeit anzuwenden
versuchte [vgl. auch den Brief vom 6.Dezember 1772, Bd.9, S.95f.]
Seine Briefe an Gleim offenbaren ein hohes Maß an Bildung und
künstlerischem Talent:
"Ich nahm also meine Flöte, und blies ihm [Valentin
von Massow] eine ganze Stunde lang die einschläfrigsten Stückchen
vor, bis er endlich gleich dem alten Argus hinsank und einschlummerte",
schrieb Heinse am 6.November 1772 aus Halberstadt. Dass er neben der
Flöte noch sehr gut Kalvier zu spielen verstand, zeigt sein Brief
vom 8.September 1775: "Bey meinem Daseyn zu Hanover hielt
man mich für einen Hexenmeister im Klavierspielen" [Bd.9,
S.251]. Sein umfassendes musikalisches Verständnis offenbarte
sich zudem in seinem 1796 fertiggestellten Roman Hildegard von Hohenthal.
Heinse beherrschte zumindest die französische Sprache, Latein
und das Altgriechische; das Übersetzen fiel ihm nicht schwer:
"Der Petron ist leider! schon beynahe fertig; allzuschwer
ist mir die Uebersetzung noch nicht geworden, denn ich habe binnen
zehn Tagen zwey Drittel in Prose und Reime übersezt" [Brief
vom 18.Februar 1772, Bd.9, S.53]. Das befreyte Jerusalem Torquato
Tassos war "eine leichte Arbeit" für ihn [Brief
vom 8.September 1775, Bd.9, S.252]; wenn der Ariost ihm "oft
zu hart auf dem Nacken" lag [Brief vom 7.März 1780],
rührte es aus Heinses Anspruch, die Übersetzung so vollkommen
wie möglich zu machen, nicht jedoch an einer eigentlichen Mühe,
die tote Sprache zu erfassen.
Er verfügte über eine umfassende Allgemeinbildung, was sowohl
geistes- als auch naturwissenschaftliche Kenntnisse anbetraf. Seine
Briefe an Gleim sind voller Anspielungen auf antike Literatur und
Mythen, er benennt unter anderem Homer, Petrarca, Horaz und Cicero,
die Gleichsetzung Gleims mit Anakreon verstand sich von selbst, orientierte
sich Gleims Lyrik doch stark an dem altgriechischen Lyriker aus dem
sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Unter Anakreontik versteht man
jene welt- und lebensverherrlichende Dichtung des Rokoko, in der die
Themen Liebe, Wein, Natur, Freundschaft und Geselligkeit immer wieder
neu arrangiert wurden. Heinses Briefe spiegeln also zugleich auch
die aktuellen literarischen Diskussionen: Auf Laurence Sternes Tristram
Shandy (1760) nahm er immer wieder bezug, Wieland und Goethe, Klinger,
Lenz oder Hölderlin und Karl Philipp Moritz sind nur wenige Namen
die Heinse Gleim gegenüber erwähnte. Die sogenannten Düsseldorfer
Gemäldebriefe zeugen von Heinses umfassenden kunstgeschichtlichem
und ästhetischen Verständnis. Anders als Lessing, der in
seinem Laokoon (1766) die bildenden Künste nicht unterschieden
hatte, aber auch spezieller als Herder es in seiner Abhandlung über
die Plastik (1772/1778) getan hatte, stellte Heinse hier sein differenziertes
ästhetisches Programm vor. Eine genaue Analyse muss an anderer
Stelle erfolgen, es sei jedoch angemerkt, dass die Düsseldorfer
Gemäldebriefe zu den bedeutenden ästhetischen Schriften
des 18.Jahrhunderts gehören. In Italien bekam Heinse die Möglichkeit,
die antiken Statuen und die Plastiken der großen Meister der
Renaissance zu sehen. In seinem Brief von 30.Juni 1782 berichtete
er Gleim: "Für die bildenden Künste bleibt es
[Rom] ohnedem die Hauptstadt der Welt, mit welcher keine andre
kann verglichen werden." [Bd.10, S.165]. In diesem Brief
erkennt man, dass Heinse sein Kunstverständnis umfassend erweitern
konnte, er setzte sich kritisch mit den Gedanken Johann Joachim Winckelmanns
(1717 - 1767) auseinander und zweifelte gängige Meinungen der
Kunsttheoretiker und Archäologen an.
Als letzter Aspekt soll hier Heinses Freude am Schachspiel hervorgehoben
werden. "In Fritzen und mich ist der Schachspielgeist wieder
gefahren, wir sitzen oft darüber wie stumm und taub",
schrieb Heinse am 14.September 1779. Bereits zwei Jahre zuvor ereiferte
er sich mit Friedrich Maximilian Klinger über die Vor- und Nachteile
des Schachspiels. Als sein letzter Roman erschien 1803, im Jahre seines
Todes, Anastasia und das Schachspiel.
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Der
Autor Heinse
Eng
verbunden mit Heinses literarischem Schaffen, mit dem Schaffen von
Kunst überhaupt, ist die Ende des 18.Jahrhundert aufkommende
Diskussion um die Frage der Autorschaft, eine Frage, die in den Briefen
an Gleim immer wieder auftaucht.
"Das Paradigma von Autorschaft, wie es sich im Zuge der Genieästhetik
gegen die klassizistische Regelpoetik behauptete, reduzierte Kontingenz,
indem es zwischen bloßen Nachahmern' und Original-Scribenten',
schlichtem Geschreibsel und schöner Literatur unterschied."
[Schütz/Wegmann, S.63]. Zudem verknüpft sich mit dem Konzept
von Autorschaft der Gedanke einer Verantwortung, die der Schreibende
für seine Texte zu übernehmen hat. Heinse hat genau dies
durch seine Petronius-Übersetzung erfahren müssen. Die Begebenheiten
des Enkolp sorgten 1772 für einen Skandal, zumal Heinse den frivolen
Text um ein Vorwort bereicherte, in welchem er die freie Liebe nach
griechischem Vorbild verteidigte. In Folge des gewagten Unternehmens
musste er unter dem Pseudonym Rost leben, um weitere Anstellung zu
finden. Neben der moralischen Zensur gab es auch staatliche Zensurbehörden,
deren Richtlinien von Land zu Land unterschiedliche waren. Als Heinse
seinen ersten Roman Gleim übersandte, bemerkte er:
"Sie wollen es in Leipzig drucken lassen, aber wird es der
Censur daselbst entschlüpfen können? Für die Leipziger
sind ungeheure, entsetzliche Gedanken darinnen" [Brief vom
15.Februar 1773, Bd.9, S.117].
Zehn Tage später:
"Ich bin in allem Ernst besorgt, daß diese Eleusinischen
Geheimniße die Leipziger Censur nicht aus halten, und weil ich
befürchte, daß der Versuch des wegen zu viel Zeit kosten
möge, so bitt ich Sie mit dem freundlichsten zärtlichsten
Handkuße, sie in Berlin drucken zu laßen." [Brief
vom 25.Februar 1773, Bd.9, S.119]
Heinse war sich einer möglichen Reaktion auf seinen Text bewusst,
zugleich zeigt sich hier sein Verständnis von Autorschaft: Immer
wieder bezeichnete er seine Werke als "Töchter" oder
die "eigenen Geisteskinder", das Geschriebene war - nach
seinem Verständnis Eigentum des Schreibenden.
Texte jedoch, die Heinse aus einer finanziellen Notlage heraus schrieb,
wurden ihm schnell merkwürdig fremd. Zu den Musikalischen Dialogen,
die erst nach seinem Tod erscheinen sollten, bemerkte er am 23.August
1771:
"Ich weiß es nur zu gut, daß sie in aller Absicht
eine zu iugendliche Arbeit sind. Ich verfertigte sie in der größten
Noth, um durch sie, wenn sie gedruckt wären, von meinen reichen
Landleuten Lebensmittel zu erhalten, welches auch ohne allen Zweifel
würde erfolgt seyn. Halten Sie einen Theil davon für würdig,
im Drucke zu erscheinen, so streichen Sie am Ende der Vorrede meinen
Namen aus, denn auch dieser wurde in der Absicht beygesezt. Ich würde
die Hälfte wegstreichen, wenn ich sie wieder durch sehen sollte,
iezt aber habe ich leider keine Zeit und auch keine Laune dazu."
[Bd.9, S.25f.]
Der Spaß am Befreiten Jerusalem wurde Heinse durch zu geringe
Lohnaussichten verdorben:
"Dem Tasso hab' ich den Abschied gegeben. Wenn mich unser
armseeliges Publikum zwingen will, ihm denselben für Buchhändlerlohn
zu überlassen, so mach' ich lieber selbst Kinder, da hab' ich
doch noch Freude dabey." [Brief vom 3.Mai 1776, Bd.9, S.270]
Heinse hatte versucht, die Übersetzung über Abonnements
herauszugeben, sah diesen Plan jedoch scheitern und sich gezwungen,
die Eigentumsrechte - eventuell mit Gewinnbeteiligung - an den Verleger
Hellwing zu verkaufen [vgl. Briefe vom 28.März 1775 und 15.Februar
1776, Bd.9, S.241 und 263].
Es gibt wohl keinen Autor seiner Zeit, der sich über Eingriffe
in seine Werke erboster zeigte als Heinse. Über den Abdruck seines
ersten Düsseldorfer Gemäldebriefs in der Oktoberausgabe
des Teutschen Merkurs 1776 schrieb er am 8.November desselben Jahres
"im Verdruß über einige durch Druckfehler jämmerlich
verunstaltete Stellen":
"Die Correctur des Merkur muß ganz kläglich bestellt
seyn, da in nicht drey völligen Bogen 20 abscheuliche Druckfehler
sich befinden, worunter verschiedene so Gottserbärmlich garstig
sind, daß sie einem das Schreiben verreden machen, da sie gänzlich
den ersten Eindruck verderben. Es hat mir lange Zeit nichts so weh
gethan, so ins Herz mir gestochen, als dieß hässliche Ungeziefer,
und ich möchte ich weiß nicht lieber was dafür gelitten
haben. Das schlimmste dabey ist noch, daß Meister Wieland auf
die Ehre seines Merkurius so sehr erpicht ist, dass er ihn nicht einmahl
eines Druckfehlers beschieden wissen will; und ich werde bitten und
betteln müssen, und Fürsprache gebrauchen, damit er nur
die 4 infamsten davon anzuzeigen für gut befinde." [Bd.9,
S.324f.]
Neben den Druckfehlern war es besonders die "Seuche und Pestilenz
solcher Verbeßerungen" [Bd.9, S.327], die Heinses Unmut
erregten, da Wieland eigenmächtig Veränderungen an den Texten
vornahm. Heinse bat Gleim, bei allen Verbesserungsvorschlägen,
noch seine Bestätigung einzuholen, bevor das Werk in Druck ging.
"Der Gedanke, für Journale zu schreiben ist mir Mord
und Todtschlag in der Seele geworden. Jeder Herausgeber wills haben,
so wie ihm e b e n der Kopf steht, meynend dem Publikum stünd
er auch so: und man muß ausserdem seinen Geisteskindern meistens
dabey die Nase pletschen, oder sie wohl gar ohne Leben, Glied vor
Glied abgelöst, hergeben zum Mittagsfutter für die abonierten
Krähen und Raben." [Brief vom 30.Dezember 1777, Bd.9,
S.375]
Es ist auffällig, dass Heinse, immer wenn er durch eine feste
Anstellung finanziell abgesichert war, das Artikelschreiben mied und
sich in größere Projekte vertiefte. Das Entstehen und das
Erscheinen seiner Romane war ihm nur unter solchen Bedingungen möglich.
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