Versuch
einer Zusammenführung
Es
ist aufgezeigt worden, in welchem Ausmaß das Paradigma der
Autorschaft und die Konzeption von Freundschaft im 18.Jahrhundert
grundlegend als männliche Phänomene zu verstehen sind.
Frauen ist der öffentliche Raum, schriftstellerisch tätig
zu sein, nicht zugestanden worden. Die wenigen Ausnahmen - mit Sophie
von La Roche war Heinse bekannt - lassen sich nur durch den finanziellen,
zumeist aristokratisch-familiären Hintergrund der Frauen erklären.
Die Herausgabe der Gedichte, Romane und Schriften erfolgte (fast)
ausschließlich in selbstfinanzierten Privatdrucken und war
somit dem öffentlichen Diskurs entzogen oder wurde nicht ernst
genommen. Erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts konnten Frauen sich
literarischen Raum erobern, jedoch auch jetzt noch weniger als Autorinnen,
vielmehr als hochgeschätzte Gastgeberinnen einer sich herausbildenden
Salonkultur, die ebenso wie weibliches Schreiben ein klassenspezifisches
Phänomen blieb.
Männer hingegen hatten - wie Wilhelm Heinse - auch ohne finanziellen
Rückhalt und ohne Adelstitel die Möglichkeit, mit ihrem
dichterischen Schaffen vor die Öffentlichkeit zu treten. Im
Zuge der Genieästhetik entwickelte sich das bis heute gültige
Konzept von Autorschaft, welches Text und Dichter fest miteinander
verband. Die Möglichkeit, Texte verlegt zu sehen und sie damit
einer breiteren Masse zur Diskussion zu stellen, war jedoch auch
bei Männern nur mit Einfluß möglich; das Beispiel
Heinse zeigt dies besonders eindringlich: "überall
muß mir Vater Gleim ein klein wenig Hilfe leisten."
[Brief vom 18.Februar 1772, Bd.9, S.55].
Wieland und Gleim zählen bis heute zu den bedeutendsten Förderern
ihrer Zeit; über die finanziellen Zuwendungen seitens der Herrscherfamilien
war Heinse wohl unterrichtet. Am 9.März 1779 schrieb er an
Gleim: Der Maler Friedrich Müller "hat jährlich
zu Rom tausend Gulden zu verzehren; 500 gibt ihm der Churfürst,
und 500 schießen die Weimaraner für ihn zusammen, die
Herzoginnen und der Herzog; die auch dem unglücklichen Lenz
800 Gulden jährlich schenken." [Bd.9, S.404]. Frauen
sind zweifelsohne nicht in den Genuß einer derartigen finanziellen
Zuwendung gekommen. Auch das Mäzenatentum lag im ausgehenden
18.Jahrhundert fast ausschließlich in Männerhänden,
die Herzoginnen, welche Heinse erwähnte, konnten lediglich
Einfluß auf ihre Männer nehmen, da sie selbst von jeglichen
finanziellen Angelegenheiten ferngehalten wurden. Inwiefern Witwen als Mäzenatinnen aufgetreten sind, ist für den hier angesprochenen Zeitraum auf wissenschaftlicher Ebene bisher nur unzureichend diskutiert worden.
Die soziale Unmündigkeit der Frauen gipfelte zugleich auch
ihrer Unmöglichkeit, ernsthaft ein Freundschaftskonzept zu
repräsentieren, welches von vornherein auf Männer zugeschnitten
war. Insofern verwundert es nicht, dass Frauen ihre Freundschaftsbriefe
nicht veröffentlichen konnten, dass viele literarische Zeugnisse,
zu denen auch Briefe zu rechnen sind, nicht ernstgenommen wurden,
verloren gingen oder vernichtet wurden. Die hohe Qualität der
Briefe und literarischen Zeugnisse von Frauen hat erst im späten
20.Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Geisteswissenschaften gefunden.
Das Freundschaftsmodell, wie es in Heinses Briefen an Gleim anklingt,
ist den Paradigmen des 18. und 19.Jahrhunderts verhaftet und somit
als männliches Phänomen zu verstehen.
Auf der sprachlichen Ebene lösen die freundschaftlichen Briefwechsel
des ausgehenden 18.Jahrhunderts bis heute Verwirrung aus, weil die
Zärtlichkeit und Intimität der gewählten Worte den
heute geläufigen Konventionen von männlicher Sprache entgegenstehen.
Briefe sind in diesem Falle jedoch ebenso als Kunstwerk zu betrachten
wie Romane und Gedichte und lassen von daher nicht ohne weiteres
auf die sexuelle Orientierung der Schreibenden schließen.
So war das Possessivpronomen "mein" nicht mehr als eine
freundschaftliche Floskel.
Im untersuchten Beispiel unterliegt die Sprache mehrfachen Codierungen:
Heinses Sprachstil ist hochgradig stilisiert und zweckgerichtet
eingesetzt, wobei er durchaus auch Geschlechtergrenzen bewusst unterläuft,
um die Freundschaft verbal, ich betone: verbal, in die Sphäre
des Erotischen überführen zu können. Heinse bedient
sich hierbei auch der Möglichkeit, sich bewußt vom männlichen
Bild abzusetzen - sich selbst weibliche Eigenschaften einzuschreiben,
um entweder seine Zuneigung, so inszeniert sie auch sein mag, zu
untermauern oder seine eigene Unüberlegtheit zu veranschaulichen:
So errötete er einerseits schamhaft wie ein Mädchen vor
dem ersten Kusse, als er Gleims Brief las [vgl. Brief vom 28.Januar
1771, Bd.9, S.11f.]; andererseits schilderte er seine Bindung an
die Iris folgendermaßen: Ich "gieng den Vertrag
ein; ohngefehr wie ein Mädchen seine Jungfrauschaft verliehrt,
verlohr ich meine Freyheit; Jakobi verwandelte mich erst in eine
Dame, und dann war's ihm nicht mehr schwer, mich zu überwinden."
[Brief vom 6.April 1774, Bd.9, S.193].
Ob sich daraus homoerotische Vorlieben Heinses ableiten lassen,
ist in der Literaturwissenschaft bereits diskutiert worden, muß
- meines Erachtens - jedoch im Bereich der Spekulation verbleiben.
Festzuhalten ist allerdings, dass Heinse nie den Versuch unternommen
hat, jemals - gesellschaftlichen Konventionen gemäß -
in den Stand der Ehe zu treten.
Wilhelm
Heinses Selbstbild in den Briefen an Ludwig Gleim ist - und das
bleibt schlussendlich zu konstatieren - so facettenreich, dass es
unmöglich ist, ein kohärentes Männlichkeitsbild festzumachen.
Auf Grund des inszenatorischen Charakters entziehen sich die Briefe
einer endgültigen Festlegung.