Heinses
Freundschaft zu Gleim
Eine
schriftliche Freundschaft?
Eine
nützliche Freundschaft?
Eine
erotische Freundschaft?
Eine
schriftliche Freundschaft?
Der
Briefwechsel zwischen Wilhelm Heinse und Ludwig Gleim reiht sich
in die unendlich lange Liste der Brieffreundschaften ein, die heute
das literatur- und sozialgeschichtliche Bild des 18. Jahrhunderts,
des vielfach so genannten Jahrhunderts der Freundschaft',
entscheidend mitprägen.
Hierbei gilt es zu beachten, dass der sich entwickelnde Freundschaftskult
ein elitärer ist: Er ist Angelegenheit des gehobenen Bürgertums,
der Akademiker und Dichter, jedoch nicht der breiteren Volksschichten.
Zudem ist Freundschaft im 18. Jahrhundert, so wie in diesem Kontext
von ihr geredet werden soll, als männliches Phänomen zu
verstehen; Frauen ist der Raum, Freundschaft als gesellschaftliches
Grundmodell zu vermitteln, nicht zugestanden worden. Dies hat in
erster Linie mit der Opposition von der privaten Rolle der Frau
und der öffentlichen Rolle des Mannes zu tun. Frauen blieben
auch außerhalb des eigenen Hauses Privatpersonen, sie unterstanden
männlicher Vormundschaft und hatten keine Möglichkeit,
öffentliche Ämter zu besetzen, kurz: Sie waren rechtlich
unmündig (lediglich Witwen wurde in eingeschränktem Maße
rechtliche Verantwortlichkeit zugebilligt) und nicht gesellschaftsfähig,
von daher auch unmöglich Repräsentanten einer tugendhaften
Freundschaft. Eng damit verknüpft ist die "Erfindung"
des binären Geschlechtermodells in der zweiten Hälfte
des 18.Jahrhunderts: "Als man den natürlichen Leib zum
Goldstandard des gesellschaftlichen Diskurses machte, wurden die
Frauenkörper - das seit je und für immer andere - folglich
zum Streitplatz für eine Neuformulierung der uralten, intimen
und fundamentalen Sozialbeziehung: derjenigen der Frau zum Mann."
[Laqueur, S.172]. Der weibliche Körper hatte in seiner fass-
und messbaren Konkretheit ein neues Gewicht an Bedeutung zu tragen;
über biologische Faktoren wurden von diesem Zeitpunkt an endgültig
soziale Geschlechterzuordnungen konstruiert: "Anders gesagt,
das biologische Geschlecht ersetzte das soziale als eine erstrangig
grundlegende Kategorie. Es kam sogar überhaupt erst zu einem
Rahmen, innerhalb dessen das Natürliche und das Soziale klar
unterschieden werden konnten." [Laqueur, S.177]. Der Frau wurde
physisch und moralisch der Bereich der Natur zugewiesen, sie war
von nun an aus diesen - biologischen - Gründen unfähig,
staatsbürgerliche und öffentliche Funktionen überhaupt
zu übernehmen [vgl. Laqueur, S.223]. Dem Mann hingegen war
der Bereich der Kultur zugeordnet, und so konnte die Aufwertung
der Männerfreundschaft gegenüber einer latenten sozialen
Abwertung der heterosexuellen Zweierbeziehung Kontur gewinnen [Vgl. hierzu den Aufsatz von Pfeiffer].
Der Begriff Freundschaft wird also der Ehe und der Familie, den
klassischen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, gegenübergestellt,
stellt sie jedoch nicht grundsätzlich in Frage. Inwiefern an
der Heiligkeit der Ehe gerüttelt wurde, muss jeweils individuell
untersucht werden.
Bereits Hans Dietrich [Hellbach] weist darauf hin, wie wichtig eine
Differenzierung des Freundschaftsbegriffes im 18. Jahrhundert ist:
"Wenn je ein Jahrhundert zwischen den beiden Extremtemperaturen
Verstandeskühle und Gefühlsglut hin- und hergerissen wurde,
so ist es das 18. Wie stark das abwechselnde jeweilige Uebergewicht
ist, zeigt die ganz verschiedene Tönung, die das Wort Freundschaft
im Munde etwa Winckelmanns, Klopstocks, Lessings und Kant hat. Betrachtet
man darum die Freundschaftsdichtung dieses Jahrhunderts als etwas
Ganzes [...], so verwischt man diese feineren Gegensätze, die
nur aus der allgemeinen geistesgeschichtlichen Entwicklung abgeleitet
werden können." [S.27]
Er bemerkt zudem, dass "die beiden als Anakreontik und Sturm
und Drang objektivierten Gefühlsströme [...] schon durch
ihre ganze Ueberschwenglichkeit der Freundschaftsdichtung einen
viel sinnlich farbigeren Schleier übergeworfen [haben]. Um
so schwerer ist es aber im einzelnen Falle zu unterscheiden, ob
der Freundschaftsparoxysmus, wie er diese Dichtungen des Zeitalters
der Empfindsamkeit' erfüllt, konventionell-zeitbedingt, religiös
oder tatsächlich erotisch ist." [S.28].
Was Hans Dietrich [Hellbach] über die Freundschaftsdichtung
sagt, lässt sich ohne weiteres auf die Freundschaftsbriefe
des 18.Jahrhunderts übertragen. Doch auch hier bleibt zu bedenken,
dass jeder Briefwechsel für sich betrachtet werden muss, um
herauszufiltern, welche Faktoren die Freundschaft bestimmen und
welcher sprachlichen Codes die Briefpartner sich bedienen. Wie die
Beziehung zwischen Gleim und Heinse organisiert war, soll im folgenden
genauer betrachtet werden.
Flüchtig
besehen erinnern Heinses Briefe an Ludwig Gleim erst einmal an jene,
welche Klopstock, Lenz oder der jüngere Goethe in den sechziger
und siebziger Jahren geschrieben haben, welche Achim von Arnim und
Clemens Brentano zu Beginn des 19.Jahrhunderts austauschen werden.
"Die Forderung eines Friedrich Schlegel, alle Lebensbereiche
zu poetisieren', förderte diese Tendenz, die Freundschafts-
und Liebesbriefe phantasievoll und spontan zu gestalten wie Kunstwerke."
[Schulz, S.XVII]
Nicht zufällig erleben die Briefromane, von denen Goethes Leiden
des jungen Werthers (1774) der sicherlich bekannteste ist, gerade in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre höchste Entfaltung.
Doch auch die Herausgabe authentischer Briefe bereits zu Lebzeiten
lässt die Tendenz erkennen, Männerfreundschaften als wahrnehmbares
und schriftlich fassbares Phänomen in den öffentlichen Diskurs
des 18. Jahrhunderts bringen zu wollen.
Mit der bereits 1746 herausgegebenen Sammlung Freundschaftliche Briefe
veröffentlichte Gleim, der zeit seines Lebens mit mehr als 500
Persönlichkeiten in Briefkontakt stand, eine kleine Auswahl seiner
Briefe. 22 Jahre später ließen Gleim und Johann Georg Jacobi
"voller Naivität ihren erotischen Briefwechsel im Druck
erscheinen, der ihnen den Spott und Hohn der führenden Literaten
bescherte." [Hergemöller, S.285]. Auch Heinses Briefe schien
Gleim für den Druck bestimmt zu sehen. Am 31.Dezember 1772 reagierte
Heinse auf Gleims Vorschlag:
"Meine Briefe wollen Sie einmahl drucken laßen? O ich
verstehe Scherz! und wenn es auch Ihr Ernst wäre, so werd' ich
mich desjenigen nie schämen, was ich meinem Gleim geschrieben
habe" [Bd.9, S.104].
Wie eng das Verständnis von Freundschaft und Öffentlichkeit
- und zugleich von Briefen als künstlerische Gattung - miteinander
verknüpft ist, zeigen Heinses sogenannte Düsseldorfer Gemäldebriefe,
die, obzwar an Gleim gerichtet, nie in dessen Hände gelangt sind,
sondern gleich als Druckmanuskript an Wieland gesandt wurden, welcher
sie im Oktober 1776 und im Frühjahr des darauf folgenden Jahres
in seinem Teutschen Merkur abdruckte. Heinse bemerkte hierzu rückblickend:
"Was mein Herz mir nicht gestatten wollte, unter unsern vier
Augen zu thun, that ich öffentlich; und ließ Ihnen die
allotrischen Briefe gedruckt vom Götterboten [=Merkur]
bringen, um Sie mit Geschriebenem zu verschonen." [Brief
an Gleim vom 30.12.1777, Bd.9, S.372]
Für Heinse verbanden sich mit dem Abdruck mehrere Vorteile: Er
trat mit seiner Freundschaft zu Gleim, dessen guter Ruf und Einfluss
weit über die Ländergrenzen hinausreichte, an die Öffentlichkeit,
nicht zuletzt von der Hoffnung beseelt, auf diesem Wege in die Dienste
Friedrichs II. zu gelangen; zugleich sah er darin - ganz pragmatisch
- eine finanzielle Absicherung (da Wieland den Abdruck vergütete),
sowie die kostengünstige Möglichkeit, Gleim überhaupt
zu erreichen: "allein es ist zu weit mit der fahrenden [Post],
und zu kostspielig mit der reitenden." [Brief vom 8. November
1776, Bd.9, S.324].
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Eine
nützliche Freundschaft?
Man
darf nicht außer acht lassen, dass Heinse mit Gleim in Kontakt
trat, da er auf Wohltaten angewiesen war. Bereits in seinem ersten
Brief an ihn [18.November 1770] schrieb Heinse:
"Ich habe aber in diesen betrübten Zeiten - den wahrhafftigen
Vorläufern des Lavaterischen tausendiährigen Reichs! -
Nicht - was zur Leibes Nahrung und Nothdurft gehört; Nicht
- wohin ich mein Haupt legen könnte! Ich speise und tränke
meine Zunge - offt auch meinen Magen mit - Phantasie und dieses
hab ich schon so offt gethan, daß Zunge und Magen einen würklichen
Ekel vor dieser Speise haben, so wie die Kinder Israel in der Wüsten
vor dem Manna hatten." [Bd.9, S.8]
Gekoppelt an diesen Brief waren Heinses Sinngedichte und die Musikalischen
Dialoge, "welche Herr Wieland aus allzugroßer Gütigkeit
gegen mich Ihnen hier zur Versorgung übersendet. Ich hoffe
wenigstens dadurch so viel zu erhalten, daß man mir - vielleicht
gar in Leipzig, - zutrauet, daß ich durch den Unterricht eines
Kindes wenigstens eine schwarze, spartanische Suppe und ein Kämmerlein
verdiene, wo ich meinen Leib und folglich auch meine Seele wider
Winter und Sommer beschützen könnte." [Bd.9,
S.8]
Der Briefwechsel des ersten Jahrzehnts war eng mit utilitären
Gedanken verknüpft: Heinse borgte sich von Gleim immer wieder
Geld, er erbat Fürsprachen, um eine Anstellung als Hauslehrer
oder Privatsekretär zu bekommen, einen Pass, um reisen zu können,
und er nutzte den Einfluß Gleims, um Verleger für seine
Werke und Übersetzungen zu finden.
"Wielands Fürsprache für Heinse bei Gleim war der
Beginn einer merkwürdigen Dichterfreundschaft des 18. Jahrhunderts",
resümiert Manfred Dick in seiner Habilitation über den jungen
Heinse: "Es ist eine aufschlussreiche Tatsache, daß für
Gleim bei seiner anerkennenswerten, unermüdlichen Unterstützung
notleidender Poeten nicht deren geistige Überzeugungen entscheidend
waren, sondern daß es ihm dabei um den Genuß der freundschaftlichen
Verbindungen ging. Ihn interessierten nicht beunruhigende gedankliche
Anstrengungen um die Erkenntnis und Deutung des menschlichen Daseins
und der Welt. Er suchte das bescheidene Glück einer freundschaftlich
gesinnten Umwelt, die ihm angehörte." [S.40].
Aristoteles unterteilte den Begriff Freundschaft nach drei Kategorien:
Die erste zielt ab auf den Nutzen, den man aus dem Anderen zieht,
die zweite ist eine auf Lust gegründete, die dritte - und ausschließlich
als vollkommen angesehene - ist die unvergängliche Freundschaft
der Tugendhaften und an Tugend ähnlichen [vgl. Aristoteles,
Nikomachische Ethik, S.185]. Versucht man Heinse und Gleim in diesem
Feld zu verorten, ist Heinse eindeutig der ersten Kategorie zuzuordnen,
während sich bei Gleim Nutzen und Lust miteinander kombiniert
finden, zieht er doch gerade seinen Gewinn aus der Freude an der
Freundschaft mit jungen Dichtern und Künstlern. Von einer idealen,
auf Tugend begründeten Freundschaft kann man in beiden Fällen
nicht sprechen.
Liest man also Heinses frühe Briefe an Gleim, muss man sich
bewusst sein, dass diese immer mit dem pragmatischen Gedanken an
Forderungen verknüpft waren. Manfred Dick hält es für
"schwer vorstellbar, daß Heinse auf die Dauer dem manieristischen
Getändel des Kanonikus aus Halberstadt etwas hätte abgewinnen
können. Die dauernde Wertschätzung und Anhänglichkeit,
die Gleim durch Heinse zuteil wurden, sind doch mehr durch seine
unauffällige und nie belastende Hilfsbereitschaft zu erklären."
[S.40] Heinse war, laut Dick, bemüht, "die Sprache des
empfindsamen Freundschaftskultes", sowie "den geistreichen,
witzigen Rokokostil nachzuahmen." [S.41]. Dies würde bedeuten,
dass Heinses Gedanken gleich dreifach konstruiert wären: zum
einen durch das Medium der Schrift, zum anderen durch die Imitation
des anakreontischen Sprachstils und letztlich durch die Überhäufung
Gleims mit geheuchelten Komplimenten: "Man wundert sich heute,
daß die Empfänger solcher Briefe die hyperbolischen Steigerungen
nicht als boshafte Ironie verstanden haben." [Dick, S.41].
So gesehen verkommen die Demutsformeln, die fast jeden der frühen
Briefe beschließen, zu Floskeln, die bis in die letzten Briefe
nachwirken: Der Gleim "auf Lebenszeit ergebendste Heinse"
[Brief vom 14.Oktober 1771, Bd.9, S.40], das "gehorsame
Kind" [u.a. Brief vom 18.Februar 1772, Bd.9, S.55], der
"auf ewig ergebendste Diener" [Brief vom 23.September
1771, Bd.9, S.35], der "getreue Sohn" [Brief vom
23.Oktober 1799, Bd.10, S.235], der Gleim "als seinen Schutzpatron
ewig anbetet" [Brief vom 1.September 1772, Bd.9, S.87],
sind immer wiederkehrende Neuinszenierungen des zu Dank Verpflichteten.
Heinses Dankbarkeit für Gleims Zuwendungen soll hier nicht
in Frage gestellt werden, der Tonfall erscheint jedoch unangemessen und übertrieben:
"Ich verehre Sie göttlicher Gleim, als den edelsten
Mann den ich bis iezt auf dieser Erde kenne", schrieb er
am 14.Oktober 1771 [Bd.9, S.40] und bedankte sich für die Übersendung
von Kleidung folgendermaßen: "Ich werde mehr Wollust empfinden, wenn ich Hemd' und Kleid
aus ihrer Hand trage, als Carl der 5te bey seiner Kaisercrone"
[Bd.9, S.36].
1772 verschaffte Gleim seinem Schützling eine Hauslehrerstelle
bei der Familie von Massow, die ihn nach Halberstadt und damit zu
Gleim, wenig später jedoch bereits nach Quedlinburg und Erlangen
führte: "Gut zu eßen und zu trinken hab' ich
im Ueberfluß, und gute und schlechte Bücher des gleichen."
[Brief vom Dezember 1772, Bd.9, S.94].
Abgesehen von dem pragmatischen Gedanken, sein Überleben zu
sichern - Heinse bat Gleim auch immer wieder um Rat bei Fragen,
die seine nähere Zukunft betreffen -, benutzte Heinse die Brieffreundschaft,
um seine Karriere als Dichter voranzutreiben, indem er in schmeichelndem Ton die
Lektüre von Gleims "entzückenden Gedichten"
als geniales Erweckungserlebnis beschrieb: "nun müßen Sie
einsehen, wie sehr das meinen Geist entzücken muß, der
Sie schon längst ganz heimlich für seinen Schöpfer
hielt, da Sie iezt so väterlich sorgen." [Brief vom
10.September1771, Bd.9, S.28].
Der Briefwechsel diente, und dies ist durchaus bemerkenswert, einem
gegenseitigen Bitten um Kritik und Verbesserungsvorschläge.
Heinse unterrichtete Gleim stets über die Entwicklung seiner
Werke, seine Briefe nehmen indes keinen Bezug auf eine etwaige Kritik
Gleims. Die Gedichte, welche Gleim seinem jugendlichen Brieffreund
zur Begutachtung übersandte, wurden von Heinse fast ausnahmslos
in den höchsten Tönen gelobt. Inwiefern diese Aussagen
den wirklichen Gedanken Heinses entsprachen, muß dahingestellt
bleiben. Lediglich einmal lässt sich in den Briefen eine Kritik
ausmachen: Am 4.Juli 1773 schrieb Heinse über eine Sure Gleims:
"Sie ist ganz vortrefflich, nur möcht' ich noch ein
Paar von den geheimnißvollen Bildern des Plato darinnen sehen,
damit sie ein wenig mystisch würde; und noch wünscht'
ich, daß Sie den feyerlichen Ausruf: Ha! welche Wollust u.s.w.
am Ende der Sura in einer sinnlichen Beschreibung ein wenig schwärmerisch
wiederholt hätten. Sie großer Prophet müßen
den phantasieenarmen Erdenkindern zu Gefallen bisweilen ein Paar
Worte mehr schreiben, zumal da Sie für keine Priester dichten."
[Bd.9, S.137].
Die Bekanntschaft mit Ludwig Gleim ermöglichte es Heinse, einen
Großteil seiner Gedichte, Romane und Übersetzungen zu
veröffentlichen. Die Sinngedichte erschienen 1771, Heinses
erster Roman Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse wurde drei
Jahre später herausgebracht. Die Übersetzung der Kirschen
ging auf einen Vorschlag Gleims zurück [vgl. Brief vom 23.
Juni 1772, Bd.9, S.68], die anderen Translationen waren nur möglich,
weil Gleim die Arbeitsgrundlagen zur Verfügung stellte:
"Eine große Wohlthat, guter Vater, würden Sie
Ihrem Sohn erzeigen, wenn Sie Ihren Tasso mit dem Leben des Manso
mir auf künftigen Sommer leyhen und unserm lieben George sogleich
mitgeben wollten, der ihn bey seiner Rückkunft, ohn' ein Fleckchen
wieder mit brächte; ingleichen die Satyren des Ariosto, die
mir zu seinem Leben unentbehrlich sind." [Brief vom 28.März
1775, Bd.9, S.242f.].
Heinses Entscheidung, bei der Gestaltung der von Johann Georg Jacobi
neugegründeten Zeitschrift Iris mitzuarbeiten, führte
ihn nach Düsseldorf. Trotz der so gewonnenen finanziellen Unabhängigkeit,
blieb Gleim der wichtigste Briefpartner Heinses:
"Ich verlange nichts auf dieser Welt als eine schöne
Seele, der ich alles sagen kann, was ich denke und empfinde, und
so viel zu eßen und zu trinken, daß die Gesundheit meines
Leibes und meiner Seele keinen Schaden dabey leidet." [Brief
vom 2.Mai 1774, Bd.9, S.204]
Mit Beendigung seiner vertraglichen Mitarbeit an der Iris zu Beginn
des Jahres 1776, war Heinse erneut auf Gleims finanzielle Unterstützung
und seinen landesweiten Einfluß angewiesen, da die dichterischen
Ergebnisse nicht die erwünschten finanziellen Einträge
erbrachten. Seit dieser Zeit manifestierte sich in Heinse der Wunsch,
nach Italien zu reisen; er entwickelte konkrete Pläne, um diesen
Traum wahr werden zu lassen und bat Gleim um seine Unterstützung:
"Wenn mich Ihr großer Friederich will nach Italien
reisen lassen, damit ich die Meisterwerke der großen Künstler
selbst mit Augen sehe: dann will ich sein Gallerieinspector werden,
und noch was ganz anders. Ohne dieß aber kann ich es mir selbst
nicht mit genug Ehre seyn. Was wirklich in mir ist, macht mich erst
allein stolz und glücklich, und wenn mirs eine Hölle voll
Teufel ableugnete: und kein Ruf, kein Titel, kein Rang. Das kostete
Ihrem großen Friederich nun nur ein Geh hin! und ich hoffe
zum Apoll und den Musen, er sagte es nicht umsonst" [Brief
vom 30.Dezember 1777, Bd.9, S.376].
Erst 1780 konnte Heinse, jedoch ohne finanzielle Unterstützung
des königlichen Hauses, sondern auf Kosten Heinrich Jacobis
und - natürlich - Gleims, seine dreijährige Italienreise
antreten, welche den Höhepunkt seines Lebens darstellen sollte.
In dieser Zeit begann die endgültige Loslösung von Gleim.
Obwohl sein erster Brief nach der Rückkehr aus Italien an Gleim
gerichtet und von Forderungen durchsetzt war, machte sich eine größere
Eigenständigkeit bemerkbar:
"Ich weiß nicht, was Sie in Berlin mit mir vorhaben;
eine Bibliothekarstelle wäre mir unter allen am liebsten. Ich
verlange fürs erste nichts dabey als Kost, Quartier und Kleidung.
Wenn sich nicht bald etwas findet: so mach ich deßwegen eine
Reise nach Dresden und Wien; denn es ist mir Höllenpein, für
Buchhändlerlohn die Feder anzusetzen. Zum Schulmeisterleben
auf Universitäten spür ich keine Neigung." [Brief
vom 30.Januar 1784, Bd.10, S.259].
Der Briefwechsel wurde immer sporadischer und bekam einen größeren
Pflichtcharakter. Heinse war als kurfürstlicher Bibliothekar
und Hofrat in Mainz auf Gleims Hilfe nicht mehr angewiesen; der
Briefkontakt erlosch 1799. Diese Entwicklung legt nahe, dass die
Freundschaft von Heinses Seite aus nie über den Charakter einer
Nutzensfreundschaft hinausging.
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Eine
erotische Freundschaft?
Es
ist offensichtlich, dass die empfindsame Sprache des ausgehenden
18. Jahrhunderts die "Stabilität der sexuellen Binarität"
[Butler, S.23] orientiert an einem zwangsheterosexuellen Ideal'
subversiv unterläuft. Jedoch ist der "gefühlvoll-überschwengliche
Ton, der emotionale Ausbrüche und Liebeserklärungen auch
unter Gleichgeschlechtlichen beiderlei Geschlechts nicht scheut
- ja durchaus homoerotische Nuancen entwickeln kann, die keinem
Tabu unterlagen" [Schulz, S. XVI] nicht ohne Einschränkungen
gleichzusetzen mit einem entsprechenden sexuellen Begehren der Schreibenden.
Er ist in erster Linie als literarisches Stilmittel zu begreifen,
bei Heinse zudem noch zweckgerichtet eingesetzte Koketterie, um
dem 27 Jahre älteren Gleim zu gefallen. Wenn Hergemöller
also feststellt, dass sich Heinse "für die väterliche
Aufnahme bei Gleim mit homoerotischen Briefen erster Güte"
revanchierte, bedeutet dies lediglich, dass Heinse sein Wissen über
Gleims erotische Vorlieben zu seinem eigenen Vorteil einsetzte.
Es war allgemein bekannt, dass Gleim - als einer der größten
und einflussreichsten Literaturmäzene seiner Zeit und finanziell
durch eine lebenslange Berufung zum Domsekretär in Halberstadt
abgesichert - zahllosen jungen Männern, häufig über
Jahre hinweg, Kost und Logis, Rat und Hilfe gewährte. Ähnlich,
wie es Stefan George 150 Jahre später tun wird, scharte Gleim
auf diese Weise einen Kreis von Jüngern um sich; die Freundschaften
wurden - und dies war ein offenes Geheimnis - unter verschiedenen,
hauptsächlich literarischen und mythologischen Codierungen
auch in die Sphäre des Erotischen überführt.
Hans Dietrich [Hellbach] weist in seiner bahnbrechenden Dissertation
über Die Freundesliebe in der deutschen Literatur von 1931
darauf hin, "daß Freundesliebe' etwas durchaus
Autonomes ist und nicht als euphemistischer Ausdruck mit dem Begriff
Freundschaft' zusammenhängt." [Dietrich, S.11].
Gleim, etliche Jahre älter als seine Schützlinge - mit
Heinse trennen ihn, wie schon erwähnt, 27 Jahre -, inszenierte
sich als Vaterfigur: Heinse griff diesen Code sehr schnell auf und
sprach bis zum letzten Brief (zu diesem Zeitpunkt ist Heinse 53
Jahre alt) immer wieder vom "lieben Vater Gleim" [vgl.
u.a. Bd.10, S.332] und "bestherzigen Herrn Papa"
[vgl. u.a. Bd.9, S.129]; sich selbst stellte er noch 1799 als
"getreuen Sohn" dar [vgl. u.a. Bd.10, S.332]. Aufgrund
der ständigen Wiederholungen wurden diese Rollenbilder festgeschrieben
und bekamen performativen Charakter.
Es muss offen bleiben, ob Gleim unter dem Deckmantel des "Vaters"
Zärtlichkeiten von seinen "Söhnen", zu denen
neben Heinse u.a. auch Johann Georg Jacobi (1740 - 1814), Klamer
Schmidt (1746 - 1824) und Johannes von Müller (1752 - 1809)
gehörten, einforderte.
Dass Heinse sich zumindest davon abzugrenzen versuchte, zeigt sein
Brief vom 31.Dezember 1772:
"Wie Ihr Kleist [= Ewald Christian von Kleist (1715 - 1759)]
sie liebte, Vater Gleim, so lieb ich Sie, nur mit dem Unterschiede,
daß ich Sie als Kind liebe, und Kleist Sie als Jüngling
liebte. O wär' ich würdig genug, der Liebe, mit der Sie
mich lieben - ich weiß es, und fühl' und empfind' es,
daß Sie mich lieben - o wär ich würdig genug, Ihrer
Liebe werth zu sein! - Ja! ich bin ihrer werth, Herz und Geist in
mir fühlt den stolzen Adel in sich, ihrer werth zu seyn. In
Elysium entzückender Gedanke, der Liebe des Genius, den die
größten und schönsten Genieen der Teutschen mit
Innbrunst liebten und lieben, der Liebe meines Gleims werth zu seyn!
-" [Bd.9, S.102]
Heinses Insistieren auf der Liebe eines Kindes in Abgrenzung zur
Liebe eines Jünglings offenbart seine Abneigung einer erotischen
Beziehung zu Gleim. Heinse versetzte sich selbst in einen präsexuellen
Zustand, in welchem eine sinnliche körperliche Beziehung ausgeblendet
ist.
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