Heinses Freundschaft zu Gleim

Eine schriftliche Freundschaft?
Eine nützliche Freundschaft?
Eine erotische Freundschaft?

Eine schriftliche Freundschaft?

Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Heinse und Ludwig Gleim reiht sich in die unendlich lange Liste der Brieffreundschaften ein, die heute das literatur- und sozialgeschichtliche Bild des 18. Jahrhunderts, des vielfach so genannten ‚Jahrhunderts der Freundschaft', entscheidend mitprägen.
Hierbei gilt es zu beachten, dass der sich entwickelnde Freundschaftskult ein elitärer ist: Er ist Angelegenheit des gehobenen Bürgertums, der Akademiker und Dichter, jedoch nicht der breiteren Volksschichten. Zudem ist Freundschaft im 18. Jahrhundert, so wie in diesem Kontext von ihr geredet werden soll, als männliches Phänomen zu verstehen; Frauen ist der Raum, Freundschaft als gesellschaftliches Grundmodell zu vermitteln, nicht zugestanden worden. Dies hat in erster Linie mit der Opposition von der privaten Rolle der Frau und der öffentlichen Rolle des Mannes zu tun. Frauen blieben auch außerhalb des eigenen Hauses Privatpersonen, sie unterstanden männlicher Vormundschaft und hatten keine Möglichkeit, öffentliche Ämter zu besetzen, kurz: Sie waren rechtlich unmündig (lediglich Witwen wurde in eingeschränktem Maße rechtliche Verantwortlichkeit zugebilligt) und nicht gesellschaftsfähig, von daher auch unmöglich Repräsentanten einer tugendhaften Freundschaft. Eng damit verknüpft ist die "Erfindung" des binären Geschlechtermodells in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts: "Als man den natürlichen Leib zum Goldstandard des gesellschaftlichen Diskurses machte, wurden die Frauenkörper - das seit je und für immer andere - folglich zum Streitplatz für eine Neuformulierung der uralten, intimen und fundamentalen Sozialbeziehung: derjenigen der Frau zum Mann." [Laqueur, S.172]. Der weibliche Körper hatte in seiner fass- und messbaren Konkretheit ein neues Gewicht an Bedeutung zu tragen; über biologische Faktoren wurden von diesem Zeitpunkt an endgültig soziale Geschlechterzuordnungen konstruiert: "Anders gesagt, das biologische Geschlecht ersetzte das soziale als eine erstrangig grundlegende Kategorie. Es kam sogar überhaupt erst zu einem Rahmen, innerhalb dessen das Natürliche und das Soziale klar unterschieden werden konnten." [Laqueur, S.177]. Der Frau wurde physisch und moralisch der Bereich der Natur zugewiesen, sie war von nun an aus diesen - biologischen - Gründen unfähig, staatsbürgerliche und öffentliche Funktionen überhaupt zu übernehmen [vgl. Laqueur, S.223]. Dem Mann hingegen war der Bereich der Kultur zugeordnet, und so konnte die Aufwertung der Männerfreundschaft gegenüber einer latenten sozialen Abwertung der heterosexuellen Zweierbeziehung Kontur gewinnen [Vgl. hierzu den Aufsatz von Pfeiffer].
Der Begriff Freundschaft wird also der Ehe und der Familie, den klassischen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, gegenübergestellt, stellt sie jedoch nicht grundsätzlich in Frage. Inwiefern an der Heiligkeit der Ehe gerüttelt wurde, muss jeweils individuell untersucht werden.
Bereits Hans Dietrich [Hellbach] weist darauf hin, wie wichtig eine Differenzierung des Freundschaftsbegriffes im 18. Jahrhundert ist: "Wenn je ein Jahrhundert zwischen den beiden Extremtemperaturen Verstandeskühle und Gefühlsglut hin- und hergerissen wurde, so ist es das 18. Wie stark das abwechselnde jeweilige Uebergewicht ist, zeigt die ganz verschiedene Tönung, die das Wort Freundschaft im Munde etwa Winckelmanns, Klopstocks, Lessings und Kant hat. Betrachtet man darum die Freundschaftsdichtung dieses Jahrhunderts als etwas Ganzes [...], so verwischt man diese feineren Gegensätze, die nur aus der allgemeinen geistesgeschichtlichen Entwicklung abgeleitet werden können." [S.27]
Er bemerkt zudem, dass "die beiden als Anakreontik und Sturm und Drang objektivierten Gefühlsströme [...] schon durch ihre ganze Ueberschwenglichkeit der Freundschaftsdichtung einen viel sinnlich farbigeren Schleier übergeworfen [haben]. Um so schwerer ist es aber im einzelnen Falle zu unterscheiden, ob der Freundschaftsparoxysmus, wie er diese Dichtungen des ‚Zeitalters der Empfindsamkeit' erfüllt, konventionell-zeitbedingt, religiös oder tatsächlich erotisch ist." [S.28].
Was Hans Dietrich [Hellbach] über die Freundschaftsdichtung sagt, lässt sich ohne weiteres auf die Freundschaftsbriefe des 18.Jahrhunderts übertragen. Doch auch hier bleibt zu bedenken, dass jeder Briefwechsel für sich betrachtet werden muss, um herauszufiltern, welche Faktoren die Freundschaft bestimmen und welcher sprachlichen Codes die Briefpartner sich bedienen. Wie die Beziehung zwischen Gleim und Heinse organisiert war, soll im folgenden genauer betrachtet werden.

Flüchtig besehen erinnern Heinses Briefe an Ludwig Gleim erst einmal an jene, welche Klopstock, Lenz oder der jüngere Goethe in den sechziger und siebziger Jahren geschrieben haben, welche Achim von Arnim und Clemens Brentano zu Beginn des 19.Jahrhunderts austauschen werden.
"Die Forderung eines Friedrich Schlegel, alle Lebensbereiche zu ‚poetisieren', förderte diese Tendenz, die Freundschafts- und Liebesbriefe phantasievoll und spontan zu gestalten wie Kunstwerke." [Schulz, S.XVII]
Nicht zufällig erleben die Briefromane, von denen Goethes Leiden des jungen Werthers (1774) der sicherlich bekannteste ist, gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre höchste Entfaltung.
Doch auch die Herausgabe authentischer Briefe bereits zu Lebzeiten lässt die Tendenz erkennen, Männerfreundschaften als wahrnehmbares und schriftlich fassbares Phänomen in den öffentlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts bringen zu wollen.
Mit der bereits 1746 herausgegebenen Sammlung Freundschaftliche Briefe veröffentlichte Gleim, der zeit seines Lebens mit mehr als 500 Persönlichkeiten in Briefkontakt stand, eine kleine Auswahl seiner Briefe. 22 Jahre später ließen Gleim und Johann Georg Jacobi "voller Naivität ihren erotischen Briefwechsel im Druck erscheinen, der ihnen den Spott und Hohn der führenden Literaten bescherte." [Hergemöller, S.285]. Auch Heinses Briefe schien Gleim für den Druck bestimmt zu sehen. Am 31.Dezember 1772 reagierte Heinse auf Gleims Vorschlag:
"Meine Briefe wollen Sie einmahl drucken laßen? O ich verstehe Scherz! und wenn es auch Ihr Ernst wäre, so werd' ich mich desjenigen nie schämen, was ich meinem Gleim geschrieben habe" [Bd.9, S.104].
Wie eng das Verständnis von Freundschaft und Öffentlichkeit - und zugleich von Briefen als künstlerische Gattung - miteinander verknüpft ist, zeigen Heinses sogenannte Düsseldorfer Gemäldebriefe, die, obzwar an Gleim gerichtet, nie in dessen Hände gelangt sind, sondern gleich als Druckmanuskript an Wieland gesandt wurden, welcher sie im Oktober 1776 und im Frühjahr des darauf folgenden Jahres in seinem Teutschen Merkur abdruckte. Heinse bemerkte hierzu rückblickend:
"Was mein Herz mir nicht gestatten wollte, unter unsern vier Augen zu thun, that ich öffentlich; und ließ Ihnen die allotrischen Briefe gedruckt vom Götterboten [=Merkur] bringen, um Sie mit Geschriebenem zu verschonen." [Brief an Gleim vom 30.12.1777, Bd.9, S.372]
Für Heinse verbanden sich mit dem Abdruck mehrere Vorteile: Er trat mit seiner Freundschaft zu Gleim, dessen guter Ruf und Einfluss weit über die Ländergrenzen hinausreichte, an die Öffentlichkeit, nicht zuletzt von der Hoffnung beseelt, auf diesem Wege in die Dienste Friedrichs II. zu gelangen; zugleich sah er darin - ganz pragmatisch - eine finanzielle Absicherung (da Wieland den Abdruck vergütete), sowie die kostengünstige Möglichkeit, Gleim überhaupt zu erreichen: "allein es ist zu weit mit der fahrenden [Post], und zu kostspielig mit der reitenden." [Brief vom 8. November 1776, Bd.9, S.324].

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Eine nützliche Freundschaft?

Man darf nicht außer acht lassen, dass Heinse mit Gleim in Kontakt trat, da er auf Wohltaten angewiesen war. Bereits in seinem ersten Brief an ihn [18.November 1770] schrieb Heinse:
"Ich habe aber in diesen betrübten Zeiten - den wahrhafftigen Vorläufern des Lavaterischen tausendiährigen Reichs! - Nicht - was zur Leibes Nahrung und Nothdurft gehört; Nicht - wohin ich mein Haupt legen könnte! Ich speise und tränke meine Zunge - offt auch meinen Magen mit - Phantasie und dieses hab ich schon so offt gethan, daß Zunge und Magen einen würklichen Ekel vor dieser Speise haben, so wie die Kinder Israel in der Wüsten vor dem Manna hatten." [Bd.9, S.8]
Gekoppelt an diesen Brief waren Heinses Sinngedichte und die Musikalischen Dialoge, "welche Herr Wieland aus allzugroßer Gütigkeit gegen mich Ihnen hier zur Versorgung übersendet. Ich hoffe wenigstens dadurch so viel zu erhalten, daß man mir - vielleicht gar in Leipzig, - zutrauet, daß ich durch den Unterricht eines Kindes wenigstens eine schwarze, spartanische Suppe und ein Kämmerlein verdiene, wo ich meinen Leib und folglich auch meine Seele wider Winter und Sommer beschützen könnte." [Bd.9, S.8]
Der Briefwechsel des ersten Jahrzehnts war eng mit utilitären Gedanken verknüpft: Heinse borgte sich von Gleim immer wieder Geld, er erbat Fürsprachen, um eine Anstellung als Hauslehrer oder Privatsekretär zu bekommen, einen Pass, um reisen zu können, und er nutzte den Einfluß Gleims, um Verleger für seine Werke und Übersetzungen zu finden.
"Wielands Fürsprache für Heinse bei Gleim war der Beginn einer merkwürdigen Dichterfreundschaft des 18. Jahrhunderts", resümiert Manfred Dick in seiner Habilitation über den jungen Heinse: "Es ist eine aufschlussreiche Tatsache, daß für Gleim bei seiner anerkennenswerten, unermüdlichen Unterstützung notleidender Poeten nicht deren geistige Überzeugungen entscheidend waren, sondern daß es ihm dabei um den Genuß der freundschaftlichen Verbindungen ging. Ihn interessierten nicht beunruhigende gedankliche Anstrengungen um die Erkenntnis und Deutung des menschlichen Daseins und der Welt. Er suchte das bescheidene Glück einer freundschaftlich gesinnten Umwelt, die ihm angehörte." [S.40].
Aristoteles unterteilte den Begriff Freundschaft nach drei Kategorien: Die erste zielt ab auf den Nutzen, den man aus dem Anderen zieht, die zweite ist eine auf Lust gegründete, die dritte - und ausschließlich als vollkommen angesehene - ist die unvergängliche Freundschaft der Tugendhaften und an Tugend ähnlichen [vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, S.185]. Versucht man Heinse und Gleim in diesem Feld zu verorten, ist Heinse eindeutig der ersten Kategorie zuzuordnen, während sich bei Gleim Nutzen und Lust miteinander kombiniert finden, zieht er doch gerade seinen Gewinn aus der Freude an der Freundschaft mit jungen Dichtern und Künstlern. Von einer idealen, auf Tugend begründeten Freundschaft kann man in beiden Fällen nicht sprechen.
Liest man also Heinses frühe Briefe an Gleim, muss man sich bewusst sein, dass diese immer mit dem pragmatischen Gedanken an Forderungen verknüpft waren. Manfred Dick hält es für "schwer vorstellbar, daß Heinse auf die Dauer dem manieristischen Getändel des Kanonikus aus Halberstadt etwas hätte abgewinnen können. Die dauernde Wertschätzung und Anhänglichkeit, die Gleim durch Heinse zuteil wurden, sind doch mehr durch seine unauffällige und nie belastende Hilfsbereitschaft zu erklären." [S.40] Heinse war, laut Dick, bemüht, "die Sprache des empfindsamen Freundschaftskultes", sowie "den geistreichen, witzigen Rokokostil nachzuahmen." [S.41]. Dies würde bedeuten, dass Heinses Gedanken gleich dreifach konstruiert wären: zum einen durch das Medium der Schrift, zum anderen durch die Imitation des anakreontischen Sprachstils und letztlich durch die Überhäufung Gleims mit geheuchelten Komplimenten: "Man wundert sich heute, daß die Empfänger solcher Briefe die hyperbolischen Steigerungen nicht als boshafte Ironie verstanden haben." [Dick, S.41]. So gesehen verkommen die Demutsformeln, die fast jeden der frühen Briefe beschließen, zu Floskeln, die bis in die letzten Briefe nachwirken: Der Gleim "auf Lebenszeit ergebendste Heinse" [Brief vom 14.Oktober 1771, Bd.9, S.40], das "gehorsame Kind" [u.a. Brief vom 18.Februar 1772, Bd.9, S.55], der "auf ewig ergebendste Diener" [Brief vom 23.September 1771, Bd.9, S.35], der "getreue Sohn" [Brief vom 23.Oktober 1799, Bd.10, S.235], der Gleim "als seinen Schutzpatron ewig anbetet" [Brief vom 1.September 1772, Bd.9, S.87], sind immer wiederkehrende Neuinszenierungen des zu Dank Verpflichteten. Heinses Dankbarkeit für Gleims Zuwendungen soll hier nicht in Frage gestellt werden, der Tonfall erscheint jedoch unangemessen und übertrieben: "Ich verehre Sie göttlicher Gleim, als den edelsten Mann den ich bis iezt auf dieser Erde kenne", schrieb er am 14.Oktober 1771 [Bd.9, S.40] und bedankte sich für die Übersendung von Kleidung folgendermaßen: "Ich werde mehr Wollust empfinden, wenn ich Hemd' und Kleid aus ihrer Hand trage, als Carl der 5te bey seiner Kaisercrone" [Bd.9, S.36].
1772 verschaffte Gleim seinem Schützling eine Hauslehrerstelle bei der Familie von Massow, die ihn nach Halberstadt und damit zu Gleim, wenig später jedoch bereits nach Quedlinburg und Erlangen führte: "Gut zu eßen und zu trinken hab' ich im Ueberfluß, und gute und schlechte Bücher des gleichen." [Brief vom Dezember 1772, Bd.9, S.94].
Abgesehen von dem pragmatischen Gedanken, sein Überleben zu sichern - Heinse bat Gleim auch immer wieder um Rat bei Fragen, die seine nähere Zukunft betreffen -, benutzte Heinse die Brieffreundschaft, um seine Karriere als Dichter voranzutreiben, indem er in schmeichelndem Ton die Lektüre von Gleims "entzückenden Gedichten" als geniales Erweckungserlebnis beschrieb: "nun müßen Sie einsehen, wie sehr das meinen Geist entzücken muß, der Sie schon längst ganz heimlich für seinen Schöpfer hielt, da Sie iezt so väterlich sorgen." [Brief vom 10.September1771, Bd.9, S.28].
Der Briefwechsel diente, und dies ist durchaus bemerkenswert, einem gegenseitigen Bitten um Kritik und Verbesserungsvorschläge. Heinse unterrichtete Gleim stets über die Entwicklung seiner Werke, seine Briefe nehmen indes keinen Bezug auf eine etwaige Kritik Gleims. Die Gedichte, welche Gleim seinem jugendlichen Brieffreund zur Begutachtung übersandte, wurden von Heinse fast ausnahmslos in den höchsten Tönen gelobt. Inwiefern diese Aussagen den wirklichen Gedanken Heinses entsprachen, muß dahingestellt bleiben. Lediglich einmal lässt sich in den Briefen eine Kritik ausmachen: Am 4.Juli 1773 schrieb Heinse über eine Sure Gleims:
"Sie ist ganz vortrefflich, nur möcht' ich noch ein Paar von den geheimnißvollen Bildern des Plato darinnen sehen, damit sie ein wenig mystisch würde; und noch wünscht' ich, daß Sie den feyerlichen Ausruf: Ha! welche Wollust u.s.w. am Ende der Sura in einer sinnlichen Beschreibung ein wenig schwärmerisch wiederholt hätten. Sie großer Prophet müßen den phantasieenarmen Erdenkindern zu Gefallen bisweilen ein Paar Worte mehr schreiben, zumal da Sie für keine Priester dichten." [Bd.9, S.137].
Die Bekanntschaft mit Ludwig Gleim ermöglichte es Heinse, einen Großteil seiner Gedichte, Romane und Übersetzungen zu veröffentlichen. Die Sinngedichte erschienen 1771, Heinses erster Roman Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse wurde drei Jahre später herausgebracht. Die Übersetzung der Kirschen ging auf einen Vorschlag Gleims zurück [vgl. Brief vom 23. Juni 1772, Bd.9, S.68], die anderen Translationen waren nur möglich, weil Gleim die Arbeitsgrundlagen zur Verfügung stellte:
"Eine große Wohlthat, guter Vater, würden Sie Ihrem Sohn erzeigen, wenn Sie Ihren Tasso mit dem Leben des Manso mir auf künftigen Sommer leyhen und unserm lieben George sogleich mitgeben wollten, der ihn bey seiner Rückkunft, ohn' ein Fleckchen wieder mit brächte; ingleichen die Satyren des Ariosto, die mir zu seinem Leben unentbehrlich sind." [Brief vom 28.März 1775, Bd.9, S.242f.].
Heinses Entscheidung, bei der Gestaltung der von Johann Georg Jacobi neugegründeten Zeitschrift Iris mitzuarbeiten, führte ihn nach Düsseldorf. Trotz der so gewonnenen finanziellen Unabhängigkeit, blieb Gleim der wichtigste Briefpartner Heinses:
"Ich verlange nichts auf dieser Welt als eine schöne Seele, der ich alles sagen kann, was ich denke und empfinde, und so viel zu eßen und zu trinken, daß die Gesundheit meines Leibes und meiner Seele keinen Schaden dabey leidet." [Brief vom 2.Mai 1774, Bd.9, S.204]
Mit Beendigung seiner vertraglichen Mitarbeit an der Iris zu Beginn des Jahres 1776, war Heinse erneut auf Gleims finanzielle Unterstützung und seinen landesweiten Einfluß angewiesen, da die dichterischen Ergebnisse nicht die erwünschten finanziellen Einträge erbrachten. Seit dieser Zeit manifestierte sich in Heinse der Wunsch, nach Italien zu reisen; er entwickelte konkrete Pläne, um diesen Traum wahr werden zu lassen und bat Gleim um seine Unterstützung:
"Wenn mich Ihr großer Friederich will nach Italien reisen lassen, damit ich die Meisterwerke der großen Künstler selbst mit Augen sehe: dann will ich sein Gallerieinspector werden, und noch was ganz anders. Ohne dieß aber kann ich es mir selbst nicht mit genug Ehre seyn. Was wirklich in mir ist, macht mich erst allein stolz und glücklich, und wenn mirs eine Hölle voll Teufel ableugnete: und kein Ruf, kein Titel, kein Rang. Das kostete Ihrem großen Friederich nun nur ein Geh hin! und ich hoffe zum Apoll und den Musen, er sagte es nicht umsonst" [Brief vom 30.Dezember 1777, Bd.9, S.376].
Erst 1780 konnte Heinse, jedoch ohne finanzielle Unterstützung des königlichen Hauses, sondern auf Kosten Heinrich Jacobis und - natürlich - Gleims, seine dreijährige Italienreise antreten, welche den Höhepunkt seines Lebens darstellen sollte. In dieser Zeit begann die endgültige Loslösung von Gleim. Obwohl sein erster Brief nach der Rückkehr aus Italien an Gleim gerichtet und von Forderungen durchsetzt war, machte sich eine größere Eigenständigkeit bemerkbar:
"Ich weiß nicht, was Sie in Berlin mit mir vorhaben; eine Bibliothekarstelle wäre mir unter allen am liebsten. Ich verlange fürs erste nichts dabey als Kost, Quartier und Kleidung. Wenn sich nicht bald etwas findet: so mach ich deßwegen eine Reise nach Dresden und Wien; denn es ist mir Höllenpein, für Buchhändlerlohn die Feder anzusetzen. Zum Schulmeisterleben auf Universitäten spür ich keine Neigung." [Brief vom 30.Januar 1784, Bd.10, S.259].
Der Briefwechsel wurde immer sporadischer und bekam einen größeren Pflichtcharakter. Heinse war als kurfürstlicher Bibliothekar und Hofrat in Mainz auf Gleims Hilfe nicht mehr angewiesen; der Briefkontakt erlosch 1799. Diese Entwicklung legt nahe, dass die Freundschaft von Heinses Seite aus nie über den Charakter einer Nutzensfreundschaft hinausging.

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Eine erotische Freundschaft?

Es ist offensichtlich, dass die empfindsame Sprache des ausgehenden 18. Jahrhunderts die "Stabilität der sexuellen Binarität" [Butler, S.23] orientiert an einem ‚zwangsheterosexuellen Ideal' subversiv unterläuft. Jedoch ist der "gefühlvoll-überschwengliche Ton, der emotionale Ausbrüche und Liebeserklärungen auch unter Gleichgeschlechtlichen beiderlei Geschlechts nicht scheut - ja durchaus homoerotische Nuancen entwickeln kann, die keinem Tabu unterlagen" [Schulz, S. XVI] nicht ohne Einschränkungen gleichzusetzen mit einem entsprechenden sexuellen Begehren der Schreibenden. Er ist in erster Linie als literarisches Stilmittel zu begreifen, bei Heinse zudem noch zweckgerichtet eingesetzte Koketterie, um dem 27 Jahre älteren Gleim zu gefallen. Wenn Hergemöller also feststellt, dass sich Heinse "für die väterliche Aufnahme bei Gleim mit homoerotischen Briefen erster Güte" revanchierte, bedeutet dies lediglich, dass Heinse sein Wissen über Gleims erotische Vorlieben zu seinem eigenen Vorteil einsetzte.
Es war allgemein bekannt, dass Gleim - als einer der größten und einflussreichsten Literaturmäzene seiner Zeit und finanziell durch eine lebenslange Berufung zum Domsekretär in Halberstadt abgesichert - zahllosen jungen Männern, häufig über Jahre hinweg, Kost und Logis, Rat und Hilfe gewährte. Ähnlich, wie es Stefan George 150 Jahre später tun wird, scharte Gleim auf diese Weise einen Kreis von Jüngern um sich; die Freundschaften wurden - und dies war ein offenes Geheimnis - unter verschiedenen, hauptsächlich literarischen und mythologischen Codierungen auch in die Sphäre des Erotischen überführt.
Hans Dietrich [Hellbach] weist in seiner bahnbrechenden Dissertation über Die Freundesliebe in der deutschen Literatur von 1931 darauf hin, "daß ‚Freundesliebe' etwas durchaus Autonomes ist und nicht als euphemistischer Ausdruck mit dem Begriff ‚Freundschaft' zusammenhängt." [Dietrich, S.11].
Gleim, etliche Jahre älter als seine Schützlinge - mit Heinse trennen ihn, wie schon erwähnt, 27 Jahre -, inszenierte sich als Vaterfigur: Heinse griff diesen Code sehr schnell auf und sprach bis zum letzten Brief (zu diesem Zeitpunkt ist Heinse 53 Jahre alt) immer wieder vom "lieben Vater Gleim" [vgl. u.a. Bd.10, S.332] und "bestherzigen Herrn Papa" [vgl. u.a. Bd.9, S.129]; sich selbst stellte er noch 1799 als "getreuen Sohn" dar [vgl. u.a. Bd.10, S.332]. Aufgrund der ständigen Wiederholungen wurden diese Rollenbilder festgeschrieben und bekamen performativen Charakter.
Es muss offen bleiben, ob Gleim unter dem Deckmantel des "Vaters" Zärtlichkeiten von seinen "Söhnen", zu denen neben Heinse u.a. auch Johann Georg Jacobi (1740 - 1814), Klamer Schmidt (1746 - 1824) und Johannes von Müller (1752 - 1809) gehörten, einforderte.
Dass Heinse sich zumindest davon abzugrenzen versuchte, zeigt sein Brief vom 31.Dezember 1772:
"Wie Ihr Kleist [= Ewald Christian von Kleist (1715 - 1759)] sie liebte, Vater Gleim, so lieb ich Sie, nur mit dem Unterschiede, daß ich Sie als Kind liebe, und Kleist Sie als Jüngling liebte. O wär' ich würdig genug, der Liebe, mit der Sie mich lieben - ich weiß es, und fühl' und empfind' es, daß Sie mich lieben - o wär ich würdig genug, Ihrer Liebe werth zu sein! - Ja! ich bin ihrer werth, Herz und Geist in mir fühlt den stolzen Adel in sich, ihrer werth zu seyn. In Elysium entzückender Gedanke, der Liebe des Genius, den die größten und schönsten Genieen der Teutschen mit Innbrunst liebten und lieben, der Liebe meines Gleims werth zu seyn! -" [Bd.9, S.102]
Heinses Insistieren auf der Liebe eines Kindes in Abgrenzung zur Liebe eines Jünglings offenbart seine Abneigung einer erotischen Beziehung zu Gleim. Heinse versetzte sich selbst in einen präsexuellen Zustand, in welchem eine sinnliche körperliche Beziehung ausgeblendet ist.

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