WEBPORTAL: MÄNNLICHKEITEN
    Start/Sozialisation/Krieg/Kowarsch-Wache
   
 

Zitieren sie diesen Text bitte folgendermaßen:

Kowarsch-Wache, Trude :

Kriegstagebuch des Felix Wache. In: Webportal für die Geschichte der Männlichkeiten des Instituts für Geschichte der Universität Wien,

http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/maennergeschichte/sozialisation/krieg_01.htm


Kriegstagebuch des Felix Wache


Ich wähle für meine Arbeit die Autopsie eines männlichen Selbstzeugnisses; die erklärte Absicht dieser Arbeit ist, meine Quelle in den Rahmen der Untersuchung von Lothar Böhnisch und Reinhard Winter über Männliche Sozialisation (1) einzupassen und sie eventuell sogar zur Deckung zu bringen. Diese Untersuchung, auf empirischen Erhebungen basierend, kategorisiert ein soziologisches Modell und Bild von Männlichkeit aus heutiger Sicht – obwohl in den letzten zwanzig Jahren ein deutlicher Wandel eingetreten ist – nach einem Schema von acht Punkten; ich werde darauf zurückkommen.
Die Quelle ist das „Kriegstagebuch“ meines Vaters, den ich zunächst vorstelle:

Felix Wache, geboren am 26. Oktober 1901 in Holics (nahe Lundenburg, heute Slovakische Republik) als Sohn des Gutsverwalters der kaiserlichen Besitzung am Ort. Vier ältere Schwestern, ein älterer Bruder, 1917 gefallen. Reifezeugnis der Realschule in Brünn vom Juli 1920; Diplom der Hochschule für Welthandel in Wien vom März 1924. Eheschließung 1928; ich bin 1934 geboren und sollte das einzige Kind bleiben. Mein Vater war ab 1938 im Staatsdienst, vorher in einem Privatunternehmen tätig; nicht Nationalsozialist. Er beendete seine Berufstätigkeit als Hofrat der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich, Burgenland. Träger des Großen Ehrenzeichens; 1984 verstorben.
Sein beruflicher Einsatz war enorm; ich kenne ihn fast nur arbeitend.

Ich habe Erinnerungen an meine Großmutter, seine Mutter, hauptsächlich allerdings an ihre physische Erscheinung, kein „Gefühl“ für ihr Wie-als-Mensch-Sein.
Ich habe Informationen, die meinen Vater und seine Familie, sein Leben betreffen, von meiner Mutter; und ich flechte sie nur soweit hier ein, als es mir sinnhaft erscheint Die Tatsache, dass ich mit meinem Vater nie persönliche Gespräche geführt habe, ist auch ein Faktor, der mir ermöglicht, ihn in ein gewisses Männlichkeitskonstrukt einzuordnen.

Die Gefahr, die persönliche Nähe für Interpretation bedeutet, ist mir bewußt; es gab jedoch kaum persönliche Nähe zwischen uns, auch das verringert diese Gefahr.
Ich werde nicht dem acht Punkte umfassenden Auflistungssystem von Böhnisch/Winter folgen, sondern die Eindrücke meiner Quelle und spätere Kindheitserinnerungen aus der Zeit nach der Kriegsheimkehr meines Vaters aufnehmen und auf der Basis dieser Methode Verbindungen zu oder Abweichungen von dem Modell der Autoren suchen.

Die „Quelle“ ist ein Taschenkalender des Jahres 1935, in dem mein Vater seinen persönlichen Kriegsablauf, nach Jahren geordnet, beginnend mit der Eintragung vom 22/6. 1943: Wien ab 22.40, bis zur Notiz 10/8.45: an Wien 6h. festgehalten hat. Zwischen Beginn und Schluß geschieht in diesen Aufzeichnungen, die in kurzen Zeitabständen, teilweise täglich, erfolgten, nichts außer dürren Tatsachen. Es ist ein geographisch und zeitlich exakter Ablauf zwischen den zeitlichen Polen Juni 1943 und August 1945, eine minutiöse Schilderung der „Kriegswanderung“ meines Vaters; ich greife wahllos heraus, es betrifft das Jahr

  • 1945 23/3. Freitag Pribitz ab 7.50
  • 24/3. Samstag Preßburg an 16.30
  • 26/3. Montag Preßburg ab 1h über Topoliany, Oberstuben an 24h.

Ein anderer Zeit- und Ortswechselablauf, gleich nach dem Abtransport aus Wien:

  • 1943 22/6. Wien ab 22.40
  • 23/6. Krakau an 3/4 8, ab 9.30. Przemysl an 17h, (kein Aufenthalt),
    Lemberg an ca. 21h.

Die Zeit der Ausbildung in einer Wiener Kaserne ist, zumindest hier, nicht festgehalten.

Die Suche nach persönlichen Spuren ist nicht aufwendig, es gibt sehr wenige. Sie beschränken sich auf gelegentliche Hinweise auf Essen und Zwischen-Durch-Aktivitäten.

  • 1943 24/6. Besichtig. Lemberg. Essen im Sol.Heim. Nachmittags im Schwimmbad.
  • 14.10. Plan von Blag.(Blagoevo, nördlich von Odessa; mein Vater, Angehöriger einer Sanitätseinheit, war hier
    längere Zeit stationiert) gezeichnet. Mittag Ganslsuppe u Gänse gekocht (3 Stk), abend Ganslsuppe, Wurst.
  • 17/10. Erntefest Neu Liebenthal;

Es gibt aber dennoch Hinweise auf Krieg und persönliche Gefährdung:

  • 1943 30/6. Kertsch an ca. 9h. Abend Luftangriff.
  • 1/7. Dienstantritt.
  • 13/7. Muni.Zug am Molo explodiert. Bis
    Mitte Juli fast jeden Abend Luftangriff.
  • 8/8. Komme auf Chirurg. Station
  • 22/9. 1h nachts Expl. Muni. im Lager.
  • 23/9. 1h Mittags Angriff auf Hafen
  • 24/9. 1h Mittags Angriff auf Hafen u. Bad.
  • 25/9. Angriff.
  • 27/9. Ab Kertsch 24h. 18h Angriff (waren schon am Bahnhof).
  • 29/10. Verwundete eingetroffen.
  • 1944 22/8. Von 23h – 0.30 Luftangriff
  • 9.10. Russe angebl. westlich Debreczin durchgebrochen. Eisenbahnunglück.
  • 2/11. 8h gesammelt in B´pest.11h Abfahrt mit LKW. Ca 13h. Pestszentimre in Stellung bei Panzergraben. Regen,
    Mißlungene Brückensperre
  • 3/11. 6h – ca. 15h eingesetzt im Ort, Granatwerfereinschlag, Streifschuß Patronentasche, Durchschuß Mantel.
  • 6/11. „Nichts besonderes“ vom Vortag durch Zeichen „ übernommen. SS legt (durchgestrichen) 6 gef. Russen erschossen.
  • 22/12. an Ersckujvar. 15h Ari (Artillerie) hörbar, Iwan soll 25 km v. hier stehen.
  • 1945 16/1. Man hört Bombardierung v. Wien.
  • 30/3. Galanta ab 18.15, Sered an 19.30. Verladen in der Nacht in Sered. Fliegerangriffe, Artillerie schießt bereits nach
    Sered.
  • 31/3. Samstag. Sered ab 9.30 (Russe 7 km v. Sered). Tyrnau an 17h. In der Nacht Einladung Tyrnau. Angriff auf Bahnhof mit Bomben und Bordwaffen.
  • 3/4 . Dienstag. Schwandorf, Tieffliegerangriff 16.30.

Ich greife die Stellen heraus, in denen mein Vater Heimaturlaub behandelt:

  • 1943 28/12 .Auf Urlaub. Ab Bujalik 10.45. an Odessa 13h. ab Odessa 19h über Krecani 31/12. Ab Przemysl 17.35.
  • 1944 1/1. an Wien 8.45.
  • 22/1. 22.40 ab Wien.
  • 25/1. Komp. getroffen hinter Cernowitz.

 

Der Heimaturlaub anläßlich Ableben und Begräbnis seiner Mutter wird beschrieben:

  • 1944 7/6. B´pest ab 5.30. Bruck an ca. 14h. Bruck ab 17.36. Wien an 19h. 9-13/6. Holics. 13/6.Wien an 22h.21/6. Wien ab
  • 12.30. B´pest an 23.15.

Mein Wissen über den Anlaß dieses Heimataufenthaltes entstammt einer dokumentarischen Quelle (Sterbeurkunde).

Ein paar eher episodenhafte Vorkommnisse:

  • 1943 10/8. Sonne 57 G., Schatten 37 G.
  • 23/8. Stelle die ersten Läuse fest (Kopfläuse).
  • 12/10. Unterwegs 2 Hühner organisiert.
  • 1944 15/10. Umsturz in Ungarn.
  • 16/10. Horthy Abdankung.

Wieviele Menschen tauchen auf?

  • 1943 29/9 Mittags in Chuson. (Im Sol.Heim Dr. Jungreutmeier . getroffen).
  • 7/10. Komp.Abend, Absch. Stabsarzt Pischof (?) im Sol.Heim. alles Wodka-besoffen.
  • 10/10. Besichtig. Oberfeldarzt Dr. Dietrich.
  • 1944 31/12. Bei Muki
  • 1945 5/4. In Freising Zug mit evakuierten Wienern.

Die Beschreibung der Gefangennahme:

  • 1945 14/4 Samstag München ab 0.40, Surheim an 21h.
  • 15/4. – 4/5. Surheim.
  • 4/5. 12.30. 2 USA-Panzerspähwagen kommen.
  • 7/5. Erste Verpflegung seit Gefangennahme. 1 Scheibe Knäckebrot. 10 Mann 1 Dose Leberwurst.

Die Beschreibung der Heimkehr folgt der bisherigen Vorgangsweise: genaue Angaben über die Wegstrecke, Abfahrt- und Ankunftszeiten. Sie endet, wie schon beschrieben, mit:

  • 1945 10/8. an Wien 6h.

Das hier beschriebene „Tagebuch“ umfaßt bei einem Größenausmaß von 8 mal 11,5 cm 41 Seiten; ich habe alle Stellen, die sich dem Ablauf der Beschreibung von Wegzeiten und Ortsveränderungen entziehen, erfaßt.

Erklärung zur Bedeutung von „einladen“, „verladen“: Mein Vater war, wie bereits erwähnt, in einem Sanitätsbataillon; es handelt sich also um Transporte von Verwundeten. Hier tut sich eine neue Quelle von Information für mich auf: Mein Vater hielt zu vier ehemaligen Kriegskameraden bis in eine sehr späte Lebensphase aller Beteiligten Kontakte aufrecht; die Familien trafen sich regelmäßig; es gab gemeinsame Urlaubsreisen. Es war das der einzige Freundeskreis meines Vaters, den ich kannte – ich weiß nichts von seiner Jugendzeit - ; auf diesem Umweg habe ich manches erfahren. Diese Treffen waren durchaus dem Gedenken gemeinsamer Erfahrungen gewidmet, verständlicherweise ein starkes Band, anscheinend eines, das die konstruierte Autonomie durchbricht. Selbst in diesem engen Kreis, der mit Sicherheit Erinnerungen teilte, die Lebensgewißheiten veränderten, kamen ausschließlich die gefilterten und vom Schmerz bereinigten „Randbanalitäten“ zur Sprache. Ich möchte aber hier keine Verbindung zu einem soziologischen Männerbild herstellen, das Phänomen scheint eher psychologischer Natur, Umgang mit teils traumatischen Krisenerlebnissen, zu sein.

Die bearbeitete Quelle belegt nur eine Lebenssituation und nur einen Lebensabschnitt meines Vaters, sie scheint mir dennoch das von Böhnisch/Winter erarbeitete Konzept fast vollständig abzudecken. Ich setzte dabei allerdings voraus, dass „Gewalt“ nicht nur physische meint, Gewalt mentaler Art spiegelt sich deutlich in der Eintragung unter dem 6/11.1944 des „Kriegsreisetagebuches“ wider. Zum besseren Verständnis eine genaue Wiedergabe der Stelle:

  • 5/11. Nichts besonderes
  • 6/11. -""- SS legt (das Wort legt ist mit zwei Querstrichen ungültig gemacht) 6 gef. Russen erschossen.

Eindeutig nicht zur Sprache – oder zur Schrift – kommt das Thema Frauen, ich sehe aber gerade in diesem Fehlen eine starke Präsenz. Ich begebe mich auf unwissenschaftliches Gebiet und trage aus Erinnerungen nach: mein Vater sprach von meiner Mutter nie als von „meiner Frau“, die absolut gängige Benennung für Ehefrau, sondern immer nur als von „der Frau“, den Artikel benützend, und es klang keineswegs nach der Frau, der einzig möglichen. Gebote oder Verbote meines Vaters, mich betreffend, erreichten mich ausschließlich über meine Mutter.

Ich stelle nun das von Lothar Böhnisch und Reinhard Winter erarbeitete Modell männlicher Sozialisation vor.
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht die Problematik männlicher Autonomie; die Autoren greifen auf den Psychoanalytiker Arno Gruen zurück:

Autonomie ist derjenige Zustand der Integration, in dem ein Mensch in voller Übereinstimmung mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen ist. Autonomie beinhaltet die Fähigkeit, ein Selbst zu haben, das auf den Zugang zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen gründet.(2) Böhnisch/Winter zitieren hier Gruen 1986,95, 17.

Obwohl (oder weil) Gruens Autonomiebegriff keine Konnotion mit soziologischen Konzepten hat, wird der Gedanke über „Lebensbewältigung“ zu „Bewältigung des Mannseins“ weitergeführt; es werden Bewältigungsmuster männlicher Sozialisation und deren Prinzipien erarbeitet und in Punkten gegliedert (Erwähnung oben):

Externalisierung, wesentliches Strukturmerkmal und Basis weiterer Prinzipien; sichert
die Außenorientierung gegenüber der eigenen Innenwelt. Wahrnehmung und Handeln werden nach außen verlagert.

Gewalt als wesentliche Konsequenz der Externalisierung, a u c h in der
Selbstdefinition über Leistung sichtbar werdend.

Benutzung, mit der Gewalt teils verbunden, bedeutet zumeist Abwertung Anderer.

Stummheit, nicht auf Sach-, aber auf persönliche Themen zu beziehen; diese sind nicht
möglich, weil der reflexive Selbstbezug fehlt.

Alleinsein, korrespondierend mit Stummheit, uns in der Erscheinungsform des „einsamen Wolfes“ vertraut.

Körperferne, sie hat a u c h den Aspekt der Funktionalisierung und Objektivierung der Frau und der Distanz zum eigenen Körper.

Rationalität, der Externalisierung verwandt, rückt Emotionalität ins Abseits.

Kontrolle der Anderen und des Selbst, im zweiten Fall a u c h zur Aufrechterhaltung der vorgenannten Prinzipien.

Aus meiner Sicht deckt sich die von mir vorgestellte Quelle, so geringfügig wie möglich durch Anmerkungen ergänzt, weitgehend mit dem Modell männlicher Sozialisation nach dem Entwurf Böhnisch/Winter.
Eine Frage bleibt offen: sind Modellentwürfe tauglich, menschliches Verhalten auch oder gerade in Krisenzeiten, die eingeschränkte Handlungsspielräume der Psyche bedingen, zu erklären?

 

Literatur & Anmerkungen:

(1) Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhard, Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Weinheim 1993.

(2) Gruen, A.: Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. München 1992.