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Walter, Karl:

Buchbesprechung von John Tosh: A Man's Place, Masculinity and the Middle-Class Home in Victorian England. In: Webportal für die Geschichte der Männlichkeiten des Instituts für Geschichte der Universität Wien,

http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/maennergeschichte/rezensionen/tosh_01.htm


 

John Tosh: A Man's Place, Masculinity and

the Middle-Class Home in Victorian England

 

Das viktorianische Zeitalter wurde von den Historikern lange Zeit als das Zeitalter der Beschaulichkeit, der Häuslichkeit, der Privatheit betrachtet. Literarische Quellen wie etwa Charles Dickens berichten von dem Idyll in den Familien der Reichen und von der Armut der unteren Schichten. In den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts begannen u.a. die Historikerinnen Leonore Davidoff und Catherine Hall die Rolle der Frau in der viktorianischen Mittelschichtfamilie zu untersuchen. Und nun unternimmt John Tosh den Versuch, die Rolle des Mannes in der als Domäne der Frau bezeichneten Familie zu durchleuchten.

Tosh belässt er es dabei nicht bei einer punktuellen Betrachtung. Er umreißt die Entwicklung in den vorviktorianischen Jahrzehnten, als die Arbeit und die Arbeitsstelle des Mannes erstmals aus dem Haus- und Familienverband ausgelagert wurden. Die Frauen und auch die Kinder, die schon früh in Werkstatt und Laden hatten mithelfen dürfen und müssen, waren nun abgekoppelt vom Erwerbsprozess und von der Nähe des Vaters, der in die industriellen Zentren der Städte pendelte und die Familie - oft in einem der aufblühenden vornehmen Vororte - zurückließ.

Hier setzen die Untersuchungen Toshs ein, der sich nicht nur auf literarische Quellen - zeitgenössische Romane sowie "Ratgeber" für den Mann, die Frau, die Heranwachsenden - und auf die süßlich-kitschigen Genrebildchen stützt, sondern erstmals auf unveröffentlichte Tagebücher, Briefe wie auch Memoiren der nächsten Generation. Sieben Männerbilder aus verschiedenen Berufen der gehobenen Mittelschicht werden untersucht; aus der Sicht der Söhne wird manches großbürgerliche Verhalten in Frage gestellt.

Der Mann, einst absoluter Herr in Haus und Geschäft und Gebieter über Gehilfen, über Frau und Kinder und zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch unbestrittener Patriarch, muß seine Männlichkeit neu definieren. Erst wenn es ihm gelungen ist, ein entsprechendes Einkommen zu erreichen, das ihm die standesgemäße Erhaltung einer Frau aus seiner Schicht ermöglicht, kann er heiraten und Kinder zeugen. Damit erst wird er zu einem Vollmitglied der Männerwelt. "Establishing a houshold, protecting it and providing for the home" gilt als erste Pflicht des Mannes.

In der viktorianischen Bilderbuchfamilie zu Beginn der Epoche ist der Vater für den Broterwerb und für das religiöse Leben in der Familie (das Familiengebet und den Gang zur Kirche) verantwortlich. Die Heranbildung der Söhne zu zukünftigen Familiengründern und deren Ausbildung und Unterbringung in entsprechenden Berufen - meist bei Familienangehörigen oder Geschäftsfreunden - ist eine weitere wichtige Aufgabe des Mannes. Die Frau hat ihre Aufgabe als Schaffende im Haushalt verloren, ihr werden mehr und mehr Dienstboten zur Verfügung gestellt, die sie zu beaufsichtigen hat. Ihr fällt auch immer stärker die Aufgabe zu, dem Mann, der müde und ausgelaugt aus der Arbeit kommt, ein gemütliches Heim zu schaffen. Das Heim besteht nun aus zahlreichen Räumen für jeden Zweck und der Vater - wenn er nicht etwa als Arzt, als Anwalt, als Schriftsteller oder als Geistlicher daheim arbeitet - hat ein Studio (eine "Bude", eine Bibliothek, ein Rauchzimmer) zur ausschließlichen Verfügung.

Die Vaterrolle sieht Tosh in vier Varianten manifestiert: den abwesenden Vater, der zwar bei Kindergeburtstagen und Weihnachten in Erscheinung tritt und wohl auch einmal seine Kinder zu außerhäuslichem Vergnügen (Eislauf!) mitnimmt, aber im übrigen der Mutter die Sorge um Haus und Kinder überläßt; den tyrannischen Vater, der seine Autorität gewahrt wissen will und mit eiserner Strenge regiert (die Lebensbilder der Söhne weisen häufig eine frühkindliche Schädigung auf); den distanzierten Vater, der meint, Emotionen zu zeigen würde die Entwicklung der Söhne zu rechten Männern verhindern, und den innigen Vater, der sich nicht scheut, eine gefühlsmäßige Bindung an seine Nachkommen aufzubauen. Tosh findet Hinweise in den Lebensbeschreibungen, dass die distanzierten und die innigen Väter in der Epoche am stärksten vertreten sind. Dem entsprechen auch die Erinnerungen in den untersuchten Biographien. Kindergeburtstage und besonders das Weihnachtsfest, das in der Form des Geschenke bringenden Vaters, des "Father Christmas", überhaupt erst hier geboren wurde, sind Meilensteine der Kindheitserinnerungen. Aber auch der mit den Kindern nicht nur belehrend lesende, sondern spielende Vater kommt darin vor - auch noch in den Siebzigerjahren.

In den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts tritt - freilich nicht nur in England - eine "evangelische Erneuerungsbewegung" auf, die praktisch alle Kirchen umfasst. Ihr Einfluss auf das Ideal der viktorianischen Familie ist anfangs sehr bedeutend, besonders auf das Bild der "physischen Männlichkeit", das zu verändern sie antritt. Die herkömmliche "Männlichkeit" sei auf Reputation aufgebaut und hänge daher von der Gesellschaft der Freunde, der "peers", ab. Die Stellung eines Mannes in der Welt hänge aber von den moralischen Ressourcen des Mannes ab: "Manliness is superiority and power certainly, but it is power and superiority of character not of vociferation" (Isaac Taylor, 1820: "Advice to the Teens"). Traditionelle Attribute von Männlichkeit, wie kräftig, energisch, robust, sollen durch moralische Komponenten ergänzt werden, z.B. soll "mutig" interpretiert werden als "für etwas einstehen, das wahr und richtig ist". Nicht materieller Reichtum ist das Ziel der Arbeit, sondern wahre Freiheit von Abhängigkeiten, wenn man der Arbeitsethik folgt.

Gleichzeitig wollen die Erneuerer auch die Stellung des "Paterfamilias" verändern. Frau, Kinder und Dienerschaft verlangen Zuwendung und Zeit des Mannes, sei es zum Familiengebet, sei es für fröhliche Spiele am Kamin. Damit wird freilich der Vorstellung des 18.Jahrhunderts von Männlichkeit der Kampf angesagt, wie sie der Moralist James Fordyce 1779 formuliert: Ein Mann zu werden, bedeutet, die Frauen zurückzulassen - zumindest jene, die ihn als Kind genährt haben - und die Bequemlichkeit des Kamins für die raue, männliche, öffentliche Atmosphäre aufzugeben. In seiner eigenen Familie hat der Mann darauf zu achten, seiner Frau nicht die Herrschaft zu überlassen und die Söhne vor "entmannender" Weichheit der Mutter zu schützen. Sie sollen männliche Selbstverantwortung auf der "Grand Tour", einer Reise, erwerben, um die Bande zur häuslichen Weiblichkeit zu brechen.

Hingegen sieht es das Evangelium der "Erneuerer" so, dass intelligente Mütter ihre Söhne zu guten, häuslichen Männern erziehen sollen.

Der Ehrgeiz der Männer ist es nach wie vor, den Sohn und Erben zu einem "richtigen" Mann zu machen. Das ist der Vater seiner eigenen Männlichkeit schuldig. Liegt zu Beginn der Epoche das Training zur Erreichung maskuliner Unabhängigkeit allein in den Händen des Vaters - der Sohn muss selbständig werden, er soll jeder Situation gewachsen sein, auch der Konkurrenz, und (sexuellen) Versuchungen widerstehen können -. nimmt ihm bald eine neue Einrichtung des viktorianischen Zeitalters diese Sorge ab: die Public School. Nun werden neunjährige Knaben den "verweichlichenden" Einflüssen der Mutter entrissen und in Internate gesteckt, wo sie sich an Gleichaltrigen messen und sich ihnen gegenüber behaupten müssen. Die Jahre im Internat prägen die Männlichkeit der Heranwachsenden mehr als das wohlige, bequeme Heim, und es hängt wohl von den Freunden, den "peers", und Kollegen ab, ob aus dem Knaben ein lebenstüchtiger Mann wird. Nur dann kann sich sein Vater auch über seinen Sohn definieren und dem Idealbild der viktorianischen Männlichkeit entsprechen. Doch dieses trägt schon sein Verfallsdatum in sich.

Im ersten Teil seines Buches behandelt Tosh die Zeitspanne von 1830 bis 1870, also die Hochblüte der "domesticity". Er beleuchtet das Verhältnis der Ehepartner zueinander, das Verhältnis des Vaters zu seinen Kindern, die Veränderungen, die die heranwachsenden Söhne betreffen, und das "öffentliche Leben" des Mannes. Im zweiten, viel kürzeren Teil, beschreibt er die Jahre 1870 bis 1900 und damit quasi das Verhalten der dritten viktorianischen Generation unter den teilweise sehr veränderten Bedingungen.

Parallel zu den Veränderungen im Haus und in der Häuslichkeit verlaufen die Entwicklungen des British Empire und der nun global agierenden Wirtschaft mit ihrem aufreibenden Wettbewerb, das Aufkommen neuer sozialer Strömungen wie des Feminismus, die gesetzliche Anpassung an die neuen Gegebenheiten im Ehe- und Familienrecht, die Entdeckungen der Wissenschaft (Darwinismus, Archäologie) und damit Hand in Hand gehend das Abnehmen des Einflusses der Religion auf den Einzelnen und die Familie.

In den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts treten die jungen Männer noch mit 17 Jahren als Praktikanten in das Berufsleben ein. Nach wenigen Jahren haben sie bereits die Möglichkeit, eine Familie zu gründen. Durch die allgemeine Schulpflicht und die Universität wird das Alter nun weiter hinausgeschoben, in dem sie genügend verdienen, um eine Tochter aus gutem Haus zu heiraten. Inzwischen sind sie an das freie Junggesellenleben in einer Bude gewöhnt und denken nicht daran, es aufzugeben (Ein eigenes Kapitel behandelt die Frage der Prostitution). Freizeitangebote wie der immer populärer werdende Sport und das nun an Mitgliedschaft gebundene Klubleben, das dem Mann eine gute private Adresse bietet und Frauen strikt ausschließt, lassen manche Männer eine Heirat lange hinausschieben. Neue Gesetze, die eine Ehescheidung aus körperlicher oder seelischer Grausamkeit ermöglichen und der Frau das in die Ehe eingebrachte Vermögen sowie später sogar das Sorgerecht für die Kinder zusprechen, verstärken den Trend. Das wachsende Imperium, das es zu erhalten und verteidigen gilt, bietet verlockende Posten in der Verwaltung der Kolonien oder in Armee und Marine. Die beliebtesten literarischen Werke der Zeit sind nicht mehr Liebes- und Eheromane, sondern die Abenteuererzählungen eines Robert Louis Stevenson, eines Rider Haggard, eines Gordon oder Lord Kitchener.

Der Mann der 80er, 90er Jahre, gewöhnt an interessante Diskussionen im Klub oder auf dem Golfplatz, findet nun nicht mehr Gefallen an den Gesprächen mit seiner oft reizenden, aber ungebildeten Frau, deren Horizont noch immer sehr begrenzt ist. Mancher zieht es vor, zu seinen Pferden in den Stall zu gehen, oder sich in sein Studio zurückzuziehen. Die "Tyranny of five-o'clock-tea", eines dem Weiblichen zugeordneten gesellschaftlichen Rituals, zu durchbrechen, die "Flight from Domesticity", gilt als männlich

Die Folgen später Heirat, steigender Kosten für die Betreuung (Kindermädchen) und Fortbildung der Kinder, sowie sexueller Aufklärung (der Siegeszug des Kondoms und des Diaphragmas) sind unter anderem: das Sinken der Geburtenrate, das Ansteigen der Zahl der unverheirateten Frauen, die nun in Berufe drängen, aber auch der Homosexualität und des freiwilligen Zölibats (oft religiös untermauert).

Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass das viktorianische Ideal der Männlichkeit, das Bild des hierarchisch gegliederten Haushalts, weit bis ins 20.Jahrhundert hinein gültig ist. Er zeigt aber deutlich auf, dass aufgrund kultureller und sozialer Umbrüche, die weit über die häusliche Sphäre hinausgehen, die Realität diesem Ideal schon im Lauf des späten 19.Jahrhunderts immer weniger entspricht.

John Tosh ist angetreten, das Bild des Mannes im viktorianischen Heim, das allgemein als Domäne der Frau gilt und in dessen Zentrum die Kinder stehen, zurechtzurücken. Ist es ihm geglückt? Er hat mit einer Flut von Beispielen die verschiedenen Ausformungen des Familienlebens und die Rolle des Mannes dokumentiert, was das Buch abwechslungsreich und gut lesbar macht. Er hat sein Objekt, den viktorianischen Mann, von allen Seiten beleuchtet, was naturgemäß manchmal zu Längen und Wiederholungen führt, ohne wirklich in die Tiefe zu gehen. Trotzdem: sicher ein Standardwerk der modernen Gender-History

 

Literatur:

John Tosh: A Man's Place, Masculinity and the Middle-Class Home in Victorian England
Yale University Press, 1999