WEBPORTAL: MÄNNLICHKEITEN
    Start/Rezensionen/Sozialisation/Hergemöller
   
 

Zitieren sie diesen Text bitte folgendermaßen:

Wagner, Philipp:

Rezension von Bernd-Ulrich Hergemöller, Sodom und Gomorrha. In: Webportal für die Geschichte der Männlichkeiten des Instituts für Geschichte der Universität Wien,

http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/maennergeschichte/rezensionen/hergemoeller_01.htm


 

Bernd-Ulrich Hergemöller:

Sodom und Gomorrha

 

Zum vorliegenden Buch existiert bereits eine kurze Rezension von Andreas Niederhäuser, die zur ersten Auflage erschienen ist (Homosexualitäten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1972, 1999). Ich möchte mich im Folgenden vor allem auf diesen Text stützen, wenn ich „Sodom und Gomorrha“ vorstelle. Dazu sei auch angemerkt, dass mir im Gegensatz zum Rezensenten der ersten Auflage sehr viel mediävistisches Vorwissen fehlt, was Details angeht; insofern kann ich nur den Eindruck wiedergeben, den Hergemöllers Buch in Verbindung mit der Lektüre von Niederhäusers Text hinterlassen hat. Die zweite Auflage unterscheidet sich von der ersten durch zwei Indizes, die angefügt wurden, sowie durch Kürzungen und Aktualisierungen.


Hergemöller sieht sein Buch als Beitrag zum Themenfeld „Homosexualität im Mittelalter“, erhebt allerdings keinen Absolutheitsanspruch. Vielmehr möchte er „Interesse wecken und die bisherigen Überblicksdarstellungen und Detailforschungen […] ergänzen“ und sieht sein Buch als „kleine Orientierungshilfe für Privatlektüre und Studium“ (S. 8-10). Die Beiträge sind überarbeitete Aufsätze aus den Jahre 1986 bis 1995, die sich ganz allgemein mit der Terminologie, der rechtlichen Stellung gleichgeschlechtlich Handelnder sowie der Haltung der Kirche und Theologen befaßt. Darüber hinaus werden die Situationen Homosexueller in Köln und Venedig näher beleuchtet.


Der erste Aufsatz beschäftigt sich mit der Begrifflichkeit; Hergemöller macht darauf aufmerksam, daß das „Konzept“ der Homosexualität erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „erfunden“ wurde und stellt die berechtigte Frage, ob es zulässig ist, im Mittelalter von „Homosexualität“ zu sprechen. Hergemöller meint, daß man nicht von Homosexuellen sprechen könne, daß aber mannmännliches Sexualverhalten sehr wohl eigene Bezeichnungen auch im Mittelalter hatte. Die Bezeichnung für gleichgeschlechtlich Handelnde sei im Mittelalter „Sodomiter“ (in Varianten); in der Renaissance wurden dann auch Bezeichnungen verwendet, die direkt Bezug auf spezielle Praktiken nahmen. Die Frage nach der Zulässigkeit des Begriffs „Homosexualität“ bei Themen des Mittelalters bejaht Hergemöller, da der Terminus nichts anderes meine als „Gleich-Geschlechtlich“ und, abstrahiert verwendet (also aus dem „Theoriezusammenhang des 19. und 20. Jahrhunderts zu lösen“ – S. 34), angewandt werden könne.


Im zweiten Beitrag widmet sich Hergemöller der strafrechtlichen Stellung Homosexueller und schlägt dabei einen Bogen „von der Römischen Republik bis zu den Preußischen Staaten“ (S. 35). Er legt Beispiele für die Verfolgung von Sodomitern vor; es entsteht der Eindruck einer systematischen Verfolgung Homosexueller. Bei der Lektüre dieses Abschnittes gewinnt man den Eindruck, das Mittelalter sei für alle und jede lebensgefährlich gewesen: „Während die ‚Hexenverfolgung‘ seit dem 15. Jahrhundert prinzipiell jedes weibliche Wesen erfassen konnte, begann die Sodomiterverfolgung parallel hierzu, generell jede männliche Person einer existentiellen Bedrohung auszusetzen.“ (S. 42) Niederhäuser weist in seiner Rezension darauf hin, daß „Unterschiede vor allem im Bereich der Verfolgungsgeschichte zugunsten problematischer Verallgemeinerungen verwischt werden“ und der Eindruck erweckt werde, „die im Spätmittelalter relativ konstante und intensive Verfolgung der Homosexuellen in den norditalienischen Metropolen Florenz und Venedig sei für alle europäischen Gesellschaften typisch gewesen. Zumindest im deutschsprachigen Raum blieb die strafrechtliche Verfolgung der ‚Sodomiter‘ im entsprechenden Zeitraum jedoch sporadisch und im Verhältnis zu anderen Sexualdelikten eher marginal.“ Hergemöller selbst gesteht geographische Einschränkungen seiner Forschungen ein: „Wir haben […] die Probleme der ‚Germanen‘, der ‚Volksrechte‘ (Norwegen, Dänen, Friesen) und der slawischen Völker ebenso ausgeklammert wie die staatlichen und herrscherlichen Maßnahmen in den hoch- und spätmittelalterlichen Königreichen Europas, die nicht dem ‚König der Römer‘ unterstanden. Die Königreiche Kastilien und Aragón, Frankreich und England wären sehr wohl einer eingehenden Betrachtung wert.“ (S. 47)


Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Alltag Homosexueller im Mittelalter. In der Sektion „Sozialtopographie“ wird vor allem auf Köln und Venedig eingegangen; wieder bezieht sich Hergemöller vor allem auf Gerichtsurteile. Das zweite Unterkapitel, „Selbstverständnis“, listet eine Reihe überlieferter Fälle von Travestie auf (die ebenfalls auf Gerichtsakten basieren) sowie eine Bemerkung über die Aufstiegsmöglichkeiten bei Hofe (als Liebhaber). Weiters listet er unter „Homosexuellem Arrangement“ einige Männergruppen auf, die ebenfalls der Homosexualität geziehen wurden. Ihnen gemein ist die Beschäftigung mit Kunst, sei dies nun Malerei bzw. Skulptur oder Dichtung. Der vierte Aspekt, die Prostitution, wirft das Problem der Zuordnung auf: „Allerdings fällt es auch deshalb schwer, den Begriff ‚Prostitution‘ in das Beziehungsgeflecht der ‚Sodomiter‘ einzuführen, weil die Grenzen zwischen regulärer Entlohnung, freiwilligen Geschenken, Schweigegeld und dauernden Unterhaltszahlungen durchaus fließend waren.“ (S. 65) So beschränkt sich Hergemöller auf Texte von Predigten, die sich mit dem Thema des entgeltlichen Sex befassen, als auch mit Rechtsvorschriften. Als letzten Punkt bringt Hergemöller das sogenannte „Delinquenzverhalten“, also die Tatsache, dass verurteilten Sodomitern meist auch andere Verbrechen angelastet wurden (Mord, Brandstiftung, Kirchenfrevel etc.). Es wird argumentiert, daß viele dieser Verbrechen aus Angst vor Entdeckung und Verfolgung resultieren (S. 68), also ein kausaler Zusammenhang hergestellt. Ich sehe diese Aussage einerseits als Verallgemeinerung problematisch, andererseits auch deswegen, weil sie eine Verbindung zwischen Verbrechen und sexueller Neigung suggeriert. Interessant ist ein kurzer Überblick über die Positionen von „Konstruktivisten“ und „Essentialisten“ am Ende des Kapitels (S. 71-76), der wiederum auf die Frage eingeht, ob denn im Mittelalter von „Homosexualität“ gesprochen werden könne.


Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit sogenannten „Same-Sex Unions“; es stützt sich dabei auf einen Aufsatz von John Boswell. Als Beispiele werden Heiligenpaare sowie Herrscherpaare und –adoptionen und zeremonielle Verbindungen zwischen zwei Ordensbrüdern angegeben. Hergemöller macht allerdings klar, daß hierbei nicht von „schwulen Ehen“ gesprochen werden könne, da die erotische Komponente dieser Verbindungen nicht auszuschließen sei, jedoch nicht der Zweck und auch verboten war.

Das fünfte und sechste Kapitel beleuchten die Situation in zwei Städten: Köln und Venedig. Innerhalb der Kapitel wird detailliert auf die Quellenlage Bezug genommen; im Fall von Köln werden sie dem Publikum auch zur Verfügung gestellt; sie finden sich allerdings nicht in zeitgenössischem Deutsch wiedergegeben, was den Umgang mit dem Material für Nicht-Historikerinnen sicherlich erschwert. Wieder handelt es sich hierbei um Verfolgungsakten.

Das letzte Kapitel schließlich behandelt „die Schuld der Theologen“; es geht dabei weniger um die physische Verfolgung gleichgeschlechtlicher Akte, als vielmehr um die Voraussetzung dazu: „Die antisodomitischen Theologinnen und Theologen begnügten sich […] nicht damit, die biblischen Verbote oder die justinianischen Verdikte zu wiederholen, sondern sie bemühten sich stets aufs neue darum, ‚zeitgemäße‘ und individuelle Sonderformen der antisodomitischen Dogmatik zu entwickeln und Legenden auszumären, die einen gezielten Abschreckungs- und Ekeleffekt beim Publikum auslösen sollten. Kaum ein anderer Bereich der zentralen menschlichen Lebensvollzüge dürfte in einem solchen Maße von der Variationsvielfalt der theologischen Verleumdungs- und Vernichtungsstrategien überzogen worden sein wie der der gleichgeschlechtlichen Sexualität. Die Theologen beabsichtigten damit zum einen, das persönliche Gewissen der Gläubigen zu disziplinieren, zum anderen aber auch, die physische Vernichtung der Sodomiter als gottgefälliges Werk zu legitimieren.“ (S. 159-160) Als Beispiel für einen solchen Theologen bringt Hergemöller den Bettelmönch Dietrich Kolde und seinen „Chistenspiegel“.

Was bei der Lektüre auffällt, ist der Fokus auf die Verfolgung Homosexueller (wobei wir hier unter „Homosexuellen“ mit wenigen expliziten Ausnahmen Männer verstehen dürfen). Das gründet sich sicherlich auf die Quellenlage, auf die Hergemöller zurückgreift – es sind dies vor allem Predigten und Rechtstexte und nicht private Quellen wie etwa Tagebücher oder Briefe. Insofern ist die Verzerrung verständlich; es wäre aber zu wünschen, dass der Autor etwa in der Einleitung expressis verbis darauf aufmerksam macht.
Das Buch ist generell leicht lesbar und verständlich, mit Ausnahme einiger wissenschaftlicher Termini (die Wortgruppen „antithetisch konzipierte Diskussion“ und „arbeitsrelevante Synthese“ (S. 73) in einem Satz beispielsweise gestalten die Lektüre etwas holprig) und der bereits erwähnten Quellenangaben in Kapitel fünf.

Das Buch setzt sich also aus Aufsätzen aus den Jahren 1986 bis 1995 zusammen (wobei zumindest die zweite Auflage auch neuere Literatur einschließt). Hergemöller präsentiert auch das Kapitel über die „Same-Sex Unions“ stolz als „aktuelle Erstveröffentlichung“ von Boswells Text (S. 9). Jedoch weist er darauf hin, dass Boswell angelegen ist, unter dem Begriff „union“ „Analogien zwischen vormoderner Zweckheirat und heutiger Zweckgemeinschaft herzustellen, die die Frage nach Erotik und Sexualität weitgehend ausklammern. Wegen der näheren Bestimmung ‚same-sex‘ ist er jedoch zugleich genötigt, sich gegen das Mißverständnis zu wehren, daß seine Darstellung eben doch in erster Linie auf Liebe und Sex und somit auf Analogien zur modernen Liebes- und Körperbindung anspielen wolle.“ (S. 79) Dadurch wird jedoch das homosexuelle „Element“ aus der Darstellung genommen, was dem Ziel des Buches nicht entspricht. Hergemöller widmet den letzten Absatz dieses Kapitels einer tatsächlichen mittelalterlichen „schwulen Ehe“ (S. 96) und rechtfertigt somit den Aufsatz in seinem Buch.
Niederhäusers Kritik an Hergemöllers mangelnder Sorgfalt kann ich nur registrieren, nicht jedoch überprüfen, wobei der Rezensent dankenswerterweise auch Beispiele bringt. Hergemöller bringt sehr interessante einzelne Punkte, neigt jedoch dazu, aus seinen Darstellungen Verallgemeinerungen abzuleiten (wenn er etwa von „den Theologen“ spricht – S. 159).

Sehr interessant und erfreulich ist die Beschäftigung mit der Herkunft des Begriffs „Homosexueller“ bzw. „Homosexualität“, ohne die ein solches Buch sehr unvollständig wäre. Ebenfalls positiv zu vermerken ist eine Auseinandersetzung mit der Debatte zwischen „Konstruktivisten“ und „Essentialisten“. Beide Darstellungen sind sehr wichtig, und Hergemöller gelingt ein gut verständlicher Zugang.

Abschließend kann dieses Buch als das, was es seinem Selbstverständnis nach ist, als Orientierungshilfe, empfohlen werden. Es bietet einen guten Einblick in einzelne Themenfelder und ist als Einstieg für weitere Forschung sicher hilfreich.

Literatur:

Brett Beemyn, Mickey Elisaon (Hgg.): Queer Studies. A Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Anthology (New York 1996)

John Boswell: Christianity, Social Tolerance and Homosexuality. Gay People in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century (Chicago – London 1980)

Bernd-Ulrich Hergemöller: Sodom und Gomorrha. Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter (Hamburg² 2002)

FACHVERBAND HOMOSEXUALITÄT UND GESCHICHTE E.V., Invertito. Jahrbuch für die Geschichte derHomosexualitäten. 1. Jahrgang 1999. Homosexualitäten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1972 (Hamburg 1999)

Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (Frankfurt/Main11 1999)

Alan Sinfield: Queer Politics – Queer Reading (London 1994)