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Zitieren Sie diesen Text bitte folgendermaßen:

Rauber, Fabian:

Rezension von Ulrich Grooß "Sexualwissenschaftliche Konzepte der Bisexualität von Männern". In: Webportal für die Geschichte der Männlichkeiten des Instituts für Geschichte der Universität Wien,

http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/maennergeschichte/rezensionen/grooss_01.htm


 

Ulrich Grooß "Sexualwissenschaftliche Konzepte

der Bisexualität von Männern"

 

 

Einleitung

Bisexualität,
die; -, kMz. 1. (biol.) Doppelgeschlechtigkeit 2. (med.) Gleichzeitigkeit von heterosexuellen und homosexuellen Neigungen [1]

Diese Erklärung findet man in geläufigen Lexika, wenn man sich für den betreffenden Terminus interessiert und ihn nachschlägt. Genau um diesen geht es in meinem gewählten Buch, dass ich im Zuge der Vorlesung über die Geschichte der Männlichkeit ausgewählt habe. Immer wieder ist auch in dieser die Sachlage der Bisexualität zur Sprache gekommen, erinnern wir uns hier unter anderem an Benvenuto Cellini, den weltbekannten Goldschmied, Bildhauer und Bronzegießer und Schaffer der Perseus-Statue in Florenz, der sich sowohl mit Individuen weiblichen Geschlechtes als auch mit jungen Männern vergnügte. 1557 wurde Cellini sogar auf Grund dieser Tatsache, nämlich Sexualverkehr mit einem Jungen vollzogen zu haben, für vier Jahre in den Kerker verbannt, der Verlust seiner Bürgerrechte folgte auf dem Fuße. Cellini wurde zwar wieder begnadigt, jedoch stürzte ihn all diese Begebenheiten in eine schwere Lebenskrise.
Doch wenden wir uns wieder dem zu rezensierenden Buche zu. Hier handelt es sich um ein Werk des deutschen Arztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Sexualtherapie Ulrich Gooß. Dieser ist tätig in einer Praxis, mehr ist jedoch in diesem Buch nicht über ihn zu erfahren, diese Tatsache sehe ich eigentlich als sehr schade an, wäre doch ein bisschen Hintergrundinformation über den Autor sicherlich nicht verkehrt. Faktum jedoch ist, dass es sich hier um ein wissenschaftliches Buch handelt - dies verrät bereits der Titel - und als ein genau solches präsentiert sich auch das Layout des Buches. Fußzeilen und Querverweise auf andere Literaten und Werke soweit das Auge blicken kann. Gewissermaßen skeptisch tritt man an das Buch heran, vor allem wenn man sich sozusagen noch als völlig "unbefleckt" in Sachen Sexualwissenschaft definieren kann.
Einem kleinen Vorwort des Autors folgt sogleich das Inhaltsverzeichnis, in dem man sich einen ersten kleinen Überblick über den Inhalt des Buches schaffen kann. Das gesamte Werk ist in neun Kapiteln aufgeteilt, die wiederum weitere kleinere beinhalten. Im großen und ganzen behandelt das Buch folgende Themen:

1. Bisexuelle Seelen und Gehirne. Die Konstruktion der Bisexualität
2. Bisexualität und manifest Bisexuelle in der frühen Sexualwissenschaft
3. Bisexualität in der psychoanalytischen Theorie
4. Bisexualität im heterosexuell-homosexuellen Gleichgewicht
5. Die Bisexuellen und die "Therapie" der Homosexualität
6. Die Bisexuellen treten hervor
7. Bisexualitäten
8. Bisexuelles Verhalten und AIDS
9. Bisexuelle Erotisierung und die Neukonstruktion der Bisexualität

In der Einleitung stellt der Autor erklärend fest, wie es zur Auswahl der diversen Themen gekommen ist und dass dieses Buch chronologisch geordnet sei, ein Faktor der sich während des Lesens als sehr hilfreich und sinnvoll erweist, mehr dazu jedoch in der weiteren Abhandlung. Erwähnenswert wäre außerdem, dass sich das gesamte Buch ausschließlich auf den Aspekt der Männer bezieht und auf das andere Geschlecht nur im Zuge von Erklärungen oder Gegenüberstellungen Bezug genommen werden soll. Ein weiteres Fakt, dass dieses Werk besonders für die "Männerinteressierten" schmackhaft macht.

Kapitel 1

Wie erwähnt legt Ulrich Gooß das Buch chronologisch an, dies bedeutet natürlich auch, dass im ersten Kapitel der Beginn des Diskurses über männliche Bisexualität im Vordergrund steht. Dieser ist ungefähr im 19. Jahrhundert anzusiedeln, als Karl Heinrich Ulrichs (1825 - 1895) versuchte das damalig sogenannte "Rätsel der Homosexualität" zu klären. Im Zuge dieser Erforschung stieß man eben auch auf den Begriff der "manifesten Bisexualität", der des öfteren in diesem Buch seine Erwähnung findet. Ulrichs führte in seinen Untersuchungen eine Typologie ein, die hier kurz dargestellt werden soll.

Urning - mannliebender Mann
Dioning - frauliebender Mann
Uranodioninge - Männer, die Männer und ebenso Frauen lieben
Uranodionäismus - später: Bisexualität

Hier sieht man bereits, mit welch seltsamen Begriffen und Wörtern die Sexualität der Menschen dargestellt werden sollte. Dieses erste Kapitel liest sich sehr interessant, da sich, wie eben hier dargestellt, Erklärungen finden lassen, die man in dieser Art nicht wirklich kennt und somit einen sehr guten Einblick in die Ansichtsweise von Forschern früheren Jahrhunderte bekommt. Eine, für uns in der heutigen Zeit Lebenden, sehr amüsante Erkenntnis Ulrichs war es unter anderem, dass die Richtung des geschlechtlichen Liebestriebes von Männern und Frauen (oder Weiber, wie Ulrichs sie eigentlich nennt) völlig unabhängig von der Struktur der Geschlechtsorgane ist. Ulrichs war im eigentlichen Sinne der erste "schwule Aktivist", damit ist gemeint, dass er sich sogar öffentlich als "Mannliebender" definierte und das einleitet, was ungefähr 100 Jahre später die Schwulenbewegung fortsetzte. Hier muss man sich den eigentlich unglaublich hohen Mut dieses Mannes aussprechen, der in einer Zeit, in welcher Homosexuelle durchaus noch kriminalisiert wurden.
Weiters wird in diesem Anfangskapitel ebenso auf die medizinisch-psychiatrischen Anfänge der Untersuchung von Homosexualität und Bisexualität eingegangen. Hauptaussage dieses Teiles ist es, dass sich langsam aber sicher eine Art Trendumkehr bezüglich der Akzeptanz von homosexuell Handelnden ergab, diese also nicht mehr als verbrecherische Individuen angesehen wurden, sondern als leidende und auch unglückliche Mitmenschen, denen geholfen werden musste. Auch hier wird wiederum seitens des Autors sehr gut dargestellt, was man sich als einen halbwegs tolerant lebenden Menschen in der heutigen Zeit nur sehr schwer vorstellen kann, nämlich dass es eigentlich bis in das 20. Jahrhundert dauerte, bis die Menschheit, dies jedoch auch nur teilweise, einsah, dass auch der eigentlichen "Normalität" abweichende Sexualpräferenzen bestehen und von mehreren Individuen praktiziert werden. Dies klarzulegen gelingt Ulrich Gooß sehr gut, da er immer wieder die faktische Gültigkeit dieser Tatsachen mit Zitaten aus Forschungsbüchern und historischen Werken belegt, man also nie auf die eigentlich abwegige Idee kommt, all dies sei wie man so schön sagt "an den Haaren herbeigezogen".
Als eine ebenso belustigende Tatsache habe ich, eben wie gesagt als Laie der historischen Sexualwissenschaft, es empfunden, dass Kraft-Ebbing, ein österreichischer Polizeiarzt, in seiner neunten Auflage der "Psychopathia sexualis" angemerkt hat, dass es sicher sei, dass ein weiblich funktionierendes Gehirn in einem männlichen Körper stecken kann und umgekehrt. Ist der Leser nicht so bewandernd in diesen Dingen, so kommt ihm beim Lesen des Buches durchaus das ein oder andere Mal ein Lächler über die Lippen, kann man sich ja wirklich nur sehr schwer vorstellen, dass eine solche Ansichtssache tatsächlich einstmals auf der "Tagesordnung" stand. Hier schafft es Gooß sehr gut auch weniger wissenschaftliches Publikum anzusprechen und führt dieses gekonnt und ohne zu sehr mit wissenschaftlichen Ausdrücken um sich zu werfen in die Historizität der Wissenschaft über die Sexualität einzuführen.
Deswegen sehe ich das erste Kapitel des Buches als äußerst gelungen an und habe es hier nun ein wenig genauer dargelegt um zu zeigen, dass auch wissenschaftliche Bücher durchaus ihren Unterhaltungswert besitzen können und nicht unbedingt allzu schwer zu lesen sein müssen. Trotz allem muss man hier anführen, dass man in den ersten Momenten durchaus geschockt ist von der Vielzahl an Hin- und Verweisen, die Gooß in seiner Arbeit zum Ausdruck bringt.

Kapitel 2

Das darauffolgende Kapitel setzt die Chronologie des Buches unmissverständlich fort. Hier werden die historisch eigentlich wichtigsten Bisexualitätsthesen und Ansätze angeführt. Die Arbeiten so bekannter Männer wie Hirschfeld, Friedländer, Blüher aber auch Freuds werden hier miteinbezogen und deren Sichtweisen der gesamten Problematik dargestellt.
Hirschfelds Arbeiten zum Beispiel sind ungefähr um das Jahre 1904 zu datieren. In diesem Zeitraum lagen die Vermutungen über die prozentuelle Anzahl von Bisexuellen in der Gesellschaft eigentlich im Promillebereich. Hirschfeld jedoch zeigte durch eine Umfrage in der Studentenwelt, dass diese Schätzungen nicht der Wahrheit entsprachen, die Anzahl der bisexuell Orientierten war im deutlichen Prozentabschnitt anzusiedeln. Anführungen solcher Art machen in einer kleinen Phase der Langeweile das Buch immer wieder interessant, kann man sich anhand von Daten und Fakten am klarsten ein Bild über die damalige Situation machen. Eine sehr interessante, wenn auch durchaus merkwürdige, Formel wird in diesem Kapitel ebenso seitens des Autors besprochen. Hier handelt es sich um eine von Otto Weininger aufgestellte These in seinem Werk "Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung" (1903). Er versuchte hier anhand seiner These und der dazugehörigen Formel den weiblichen bzw. männlichen Teil eines Individuums zu bestimmen. Anhand der daraus folgenden Ergebnisse sollte es möglich sein den "perfekten" Gegenpart, also den bestmöglichen Partner für sich und seine Neigungen, zu finden. Natürlich stellte dies eine sehr gewagte und kontroverse Ansicht der Dinge dar.

Weitere Kapitel

Anhand der ersten zwei Kapitel habe ich nun versucht, den Sachverhalt dieses Buches von Gooß näher zu beschreiben. Mir erscheint es als ausreichend, den weiteren Inhalt des Werkes in einer kleinen Zusammenfassung zu komprimieren, eine genaue und detaillierte Ausführung würde an dieser Stelle wohl den eng gesteckten Rahmen sprengen.
In der weiteren Abhandlung des Themas "Bisexualität bei Männern" versucht der Autor weitgreifende Themengebiete abzudecken. So geht er bei dem psychoanalytischen Aspekt sehr ergiebig ins Detail und beschreibt hier sowohl die Standpunkte Wilhelm Fliess' als auch, und dies vorwiegend, die Gedanken Sigmund Freuds zu diesem Thema.
Ebenso geht der Autor auf den sehr spannenden und sicherlich strittigen Punkt bezüglich der Verknüpfung der Homosexualität mit dem Aspekt der Krankheit ein. Sprich: "Ist Homo- bzw. Bisexualität eine Krankheit und sollte sie dementsprechend behandelt werden?" Sehr detailgetreu und akribisch hantiert hier Ulrich Gooß mit allerlei Studien, Zahlen und Fakten ohne jedoch ein Gefühl der Unwissenheit bei den Lesern zu hinterlassen.
Der zweite Teil seiner Untersuchung nähert sich eher dem Thema der Bisexualität als neue Gesellschaftsform und hier versucht der Autor ebenso auf die verschiedenen Formen der Bisexualität der Männer einzugehen und beschreibt diese auch durchaus verständlich für einen Laien. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit dem sogenannten "Hervortreten der Bisexuellen" und zeigt hier den Versuch der bisexuell Orientierten, "ihre" Sexualform gesellschaftlich zu verankern und in einer Art und Weise, wenn man so will, akzeptabel zu machen. Schlussendlich wird dem Buche noch ein sehr aktuelles und deswegen überaus ansprechendes, wenn auch ein, der Thematik wegen, erschütterndes Kapitel hinzugefügt. Hierbei dreht sich alles um die Problematik, die HIV der Gruppe der Bisexuellen zufügt. Interessante Forschungsdetails kommen hier zur Sprache und verdeutlichen dem Leser wieder einmal das ausgesprochen große Übel dieser Immunkrankheit.


Stellungnahme

Als eigentlicher "Nobody", wenn man dies so ausdrücken will, bin ich als Leser an dieses Buch herangegangen. Von Sexualwissenschaft habe ich hier und da, von Zeit zu Zeit, ein bisschen gehört, aber mich nie wirklich damit auseinandergesetzt. Dieses Buch war das erste seiner Art, welches ich mir zu Gemüte führte, und somit stellt meine Wertung bzw. meine ganz persönliche Stellungnahme zu diesem Buch wohl etwas Besonderes dar. Nämlich ein Urteil aus der Sicht eines mehr oder minder "Unwissenden". Auch wenn an der Universität eben die Vorlesung zur Männlichkeit angeboten wurde und ich diese gerne in Empfang nahm, war ich doch ein "Unbefleckter" auf diesem Gebiet. Mit durchaus großem Respekt ging ich an dieses Buch heran, droht doch schon der Titel, der den wissenschaftlichen Teil des Werkes bereits impliziert, mit dieser - in einem starken Vorurteil behafteten - gnadenlosen wissenschaftlichen Trockenheit und Langeweile. Doch je länger ich las, desto mehr fügte ich mich selbst in diese wissenschaftlich Welt ein und mit jeder Seite, die ich beendete, stieg sowohl mein Interesse an diesem Themengebiet als auch mein Verständnis dafür. Die Fragestellung blieb, dank dem Vorwort und auch des Titels, immer klar im Blickpunkt und der Autor schwenkte kaum über den Rand des Themas hinaus. Eine Tatsache, die in einem so komplexen Feld sicherlich von Vorteil ist. Der Schreibstil und die Aufmachung des ganzen Buches ist streng wissenschaftlich und lässt hier und dort - logischerweise - ein bisschen die Faszination und "Verliebtheit" des Autors zu diesem Thema vermissen. Dies jedoch kann man bereits bei dem ersten Durchblättern erahnen und soll hier ganz und gar nicht als Angriffspunkt dienen. Wenn man dieses Buch jedoch ins Auge fassen sollte, muss man sich diesem Faktum bewusst sein.
Ein sehr zweischneidiges Schwert stellt die Informationsfülle des Buches dar. Einerseits ist man begeistert, wie viel neues und fremdes Wissen der Autor für einen bereithält, andererseits ist es phasenweise durchaus mühsam, all seinen Schlussfolgerungen und Thesen zu folgen, da Ulrich Gooß enorm viel Sekundärliteratur und dazugehörige Meinungen in seine Abhandlung einfließen lässt.
Die Kernfrage oder besser gesagt das am breitesten behandelte Problem ist wohl dies der "manifesten Bisexualität". Hier stellt man die Frage, ob Bisexualität fest in einem Individuum verankert ist, das heißt sozusagen von Geburt an für einen bestimmt ist, oder sich diese im Laufe der Zeit entwickelt und externen Faktoren wie zum Beispiel der Gesellschaft unterliegt. Kann man bisexuell "gemacht" werden? Kann Bisexualität, gewollt oder nicht, geformt werden? Ein sicherlich sehr komplexes und schwer oder besser gesagt noch nicht wirklich zu beantwortendes Problem, dass auch in diesem Buch nicht restlos aufgeklärt werden kann. Auch von meiner Seite soll es an dieser Stelle keine Klärungsversuche geben, dies will ich mir nicht anmaßen. Das Buch betreffend, so muss ich diesem sehr wohl eine Leseempfehlung abgeben, soweit man sich dieser Thematik zuwenden möchte und auch keine Scheu vor wissenschaftlicher Kost hat. Eine wirklich sehr aufschlussreiche Arbeit seitens des Autors, sehr engagiert und auf höchstem Wissensniveau. Sehr interessant war auch der Bezug zu der Vorlesung "Männlichkeiten", da ich einige Male Stellen des Buches auf diese umlegen konnte, sei es bei der Kriminalisierung von Bisexualität (wie am Beispiel Cellini) oder auch bei der Abhandlung der "Psychopathia sexualis".
Somit empfehle ich das Buch wie erwähnt all jenen Interessierten, es ist durchaus auch für einen Neuling wie ich es bin anregend.

 

Literatur und ergänzende Anmerkung:

[1] siehe Internet: www.fremdwort.de