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Zitieren sie diesen Text bitte folgendermaßen:

Haag, Oliver:

Als der homo sexuell homosexuell wurde, Diskurs über Richard von Krafft- Ebings: Psychopathia Sexualis. In: Webportal für die Geschichte der Männlichkeiten des Instituts für Geschichte der Universität Wien,

http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/maennergeschichte/koerper/sexualilitaet01.htm


 

Als der Homo sexuell homosexuell wurde


Richard von Krafft-Ebings „Psychopathia sexualis“ als Forum einer konstruierten männlich homosexuellen Identität?

Vorwort

 

Die Frage nach einer „homosexuellen Identität“ als Umschreibung „homosexueller Lebensweisen“ par excellence scheint in heutigen Zeiten eher mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten und stellt in ihrer Betonung des Singulars wohl eher einen Anachronismus dar. Doch gibt es auch in der Gegenwart trotz einer zunehmenden Vielfalt von Homosexualitäten eine zu erkennende Einheit. Sei es nun in der äußerlich gemeinsamen politischen Forderung nach Gleichberechtigung oder sei es als gemeinsam angenommene historische Prozesse. Auf letztere werde ich mich hier beziehen, indem ich der Frage nachgehen werde, ob, und wenn ja, wie Richard von Krafft-Ebings „Psychopathia sexualis“ zu einer Bildung einer „homosexuellen Identität“ beigetragen hat.

Meine Annahme zielt darauf ab, dass der Begriff der Identität stets von wechselnden Einflüssen bedingt zu verstehen ist. Identität als die Gleichheit mit dem eigenen Selbst (1), also etymologisch als „Selbigkeit“ zu definieren, setzt prinzipiell die „Andersheit“ voraus. Demnach gibt es kein Selbst ohne das Andere. Doch bedarf es überhaupt erst eines Mediums, damit dieses Andere wahrgenommen werden kann. Inwieweit hierzu die „Psychopathia sexualis“ beigetragen hat, soll hier geklärt werden.

Zum Formalen sei gesagt, dass ich im Verlauf dieser Arbeit „Homosexualität“ der Einfachheit wegen undifferenziert nur auf Männer beziehen werde, auch wenn der Begriff an sich korrekter Weise beide Geschlechter meint. Unter „homosexueller Identität“ ist in dieser Arbeit folglich nur diejenige von Männern zu verstehen.

 

Einflüsse auf Krafft-Ebing

Um die „Psychopathia sexualis“ verstehen und nicht bloß verurteilen zu können, bedarf es eines kurzen Blickes auf die Geistesströmungen der Zeiten davor.

Als eine bedeutende Zäsur, von der ab ein essentialistisches (2), also ein von der Natur gesetzmäßig abzuleitendes Bild von Männlichkeit deutlich zu ersehen ist, erscheint die im 18. Jahrhundert grob anzusetzende Aufklärung. Durch diese geistige Strömung entwickelte sich nicht nur eine aus der Vernunft abzuleitende Emanzipation von der die Menschen in Abhängigkeit haltenden „Natur“ und den göttlichen Dogmen. Als Folge einer solchen Autonomie namens „Vernunft“, durch welche die „Natur“ selbst beherrscht werden sollte, ist auch ein anthropologischer Diskurs zu sehen, der die Kategorien „sex“ und „gender“ quasi zum „Naturell“ verquickte und somit im Ergebnis die Bandbreiten von Sexualitäten innerhalb eines bürgerlichen Geschlechtsmodells des 19. Jahrhunderts sehr eng werden ließ. Dabei wurde zunehmend die Kategorie des kulturellen Geschlechts (gender) als Ausfluss eines von der Natur bestimmten biologischen Geschlechts (sex) gedacht. Eine Entwicklung, durch die die Männer von nun an verstärkt zu Trägern und Subjekten der Sexualität selbst wurden. Damit war nicht nur ein aus der Natur und dem biologischen Geschlechte abzuleitender Habitus verbunden, sondern auch der Rahmen für eine Aus- und Abgrenzung geschaffen, womit Homosexualität nicht mehr nur als Sexualakt, sondern als kongenitaler Habitus oder Wesenszug selbst empfunden wurde.

Diese Hintergründe sind nicht nur für ein breiteres Verständnis der „Psychopathia sexualis“ unentbehrlich, sondern auch für die Erklärung der Einflüsse von Karl Heinrich Ulrichs auf Richard von Krafft-Ebing.

Der aus Hannover stammende homosexuelle Jurist Karl Heinrich Ulrichs verfolgte in seinen ab 1864 veröffentlichten Schriften ein emanzipatorisches Ziel, indem er mit Hilfe des Arguments einer kongenitalen Veranlagung aus der „alten“ Sphäre von Schuld und Sünde auszubrechen versuchte. Dabei spiegelt das von ihm physiologisch angenommene „Dritte Geschlecht“ die Geisteshaltung seiner Zeit wider, indem der homosexuelle Mann, von ihm „Urning“ genannt, vom biologischen Geschlecht zwar männlich, von der Psyche her indes weiblich gedacht wurde. Derart wurden Sexualität und Geschlecht letztlich auf den einen gemeinsamen Referenzpunkt der Reproduktion reduziert.(3) „Das Weib im Manne“ löste für den Autor also die nach außen hin erscheinende gleichgeschlechtliche Anziehung aus, doch ergäbe sich aus der konvertierten seelischen Disposition heraus letztlich doch wieder eine gegengeschlechtliche Anziehung. Durch dieses dichotome Denkmuster wurden die Kategorien sex und gender in ihren Grenzziehungen vielmehr zementiert als aus ihren Angeln gehoben. Der gesamte als kongenital gesehene Habitus des Homosexuellen wäre mithin das Abbild des weiblichen kulturellen Geschlechts, wenngleich der Autor mit der Zeit durch diverse Zwischenstufen bis zu zehn Geschlechter kreierte. Ulrichs ging zu Beginn von sich selbst aus und beachtete in Folge erst vermehrt Autobiographien anderer. Klar erscheint, dass weibliche Züge von den meisten Betroffenen oft demonstrativ abgewiesen wurden respektive das Männliche, häufig im Soldatischen und im aktiven Part des homosexuellen Sexualaktes zum Ausdruck gebracht, beinahe überbetont wurde. Sozusagen stach als widersprüchliches Versatzstück eines durch Ulrichs Schriften sehr eng und höchst rudimentär ausgelösten homosexuellen Identitätsdiskurses besonders eine homophobe Ablehnung(4) „innerhalb der eigenen Reihen“, also gegen Effeminierte, hervor. Ich möchte an dieser Stelle deshalb meine Vermutung klarlegen, dass Ulrichs aus heutiger Sicht und mit heutigen Termini mitunter besser als Transgenderperson zu benennen wäre,(5) für die die Kategorisierungen von Hetero- und Homosexualität sowieso nicht sinnvoll und anwendbar erscheint.

Jedenfalls haben Ulrichs´ urnische Konzepte Krafft-Ebing hinsichtlich der angeborenen Disposition von Effemination beeinflusst. Die Ähnlichkeit bestand bei beiden Autoren in der Vermengung von Sexualität mit Männlich- und Weiblichkeitsvorstellungen. Der wesentliche Unterschied bestand in dem von Krafft-Ebing zunächst angenommenen Krankheitskonzept von Homosexualität als Zeichen einer Degenerationserscheinung. Ulrichs wiederum war auf die Psychiater seiner Zeit angewiesen, um eine Plattform des Gehörs zu erhalten, wie Kennedy aufzeigt: Ulrichs´s impact on sexology was more significant for directing medical researchers´attention to the subject of homosexuality than in their view of it.(6)

 


Die „Psychopathia sexualis“ als Forum einer homosexuellen Identität?

Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde Homosexualität endgültig als Wesenszug begriffen, was zum einen bedeutete, dass nicht mehr nur die anale Penetration vor Gericht verfolgt und dieser vermutete Sachverhalt dann von einem Arzt nachgewiesen werden musste, sondern dass Homosexualität dadurch breiter verstanden, also auf andere deviante homosexuelle Sexualpraktiken ausgedehnt wurde. Als logische Konsequenz einer solchen Entwicklung ist die fachärztliche Beschäftigung mit der gesamten Seele des Homosexuellen zu verstehen. Namentlich die Psychiatrie stand Pate für diese Sicht, von der der in Graz und Wien lehrende Richard von Krafft-Ebing als einer der wohl berühmtesten Exponenten zu nennen ist.(7)

Krafft-Ebing hatte zwischen 1886 und 1903 zwölf Auflagen der „Psychopathia sexualis“ persönlich redigiert. Die anfänglich dünnen Bände wurden durch immer mehr autobiographische „urnische“ Fall- und Lebensgeschichten angereichert, sodass das Werk bald zum in mehrere Sprachen übersetzten Bestseller avancierte. Dies nicht zuletzt deshalb, da dem Werk aufgrund der darin ausführlich geschilderten vitae sexualis rasch pornographischer Wert zukam. Ein Umstand, der Krafft-Ebing aufgrund kollegialen Drucks dazu veranlasste die lasziv klingenden Stellen ins Lateinische zu übersetzen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, dass in der „Psychopathia sexualis“ nicht nur Homosexualität, sondern auch Nekrophilie, Koprophagie, sowie andere Formen des Fetischismus zum Thema gemacht und darunter ebenso als deviant eingestuftes Sexualverhalten unter Heterosexuellen verstanden wurde.

Durch die zunehmenden Autobiographien und deren lebensgeschichtlichen Aspekten kam es bei Krafft-Ebing zu einer Abwendung von einer rein psychiatrisch naturwissenschaftlichen Erfassung der Homosexualität hin zu einem psychologisch, den ganzen Menschen erfassenden Konzept. Selbst die vom Autor eigen zusammen gefassten Beobachtungen zeugen davon, dass er bei Homosexuellen weitaus weniger äußerliche Merkmale, wie anatomische Anomalien, als psychologische Momente fokussierte, letztere etwa an Hand der Schilderungen von Träumen und Kindheitserlebnissen.(8)

Die völlig unterschiedlichen Kategorien von Homosexuellen, Transgender, Transsexuellen und Cross-Dressern wurden vom Autor allerdings in ein und denselben Topf der konträren Sexualempfindungen geworfen. Diese aus heutiger Sicht mangelnde Differenzierung mag eine Erklärung dafür abgeben, weshalb sich Krafft-Ebing Homosexuelle anfangs als weibisch vorstellte und das Gros der Betroffen sich massiv gegen eine solch vereinheitlichende Kategorisierung wehrte und sich daher mit einer solchen nicht identifizieren konnte respektive wollte. Ein weiterer Punkt einer anfangs zögernden Identitätsbildung ergibt sich in meinen Augen auch in der Grenzziehung und Intensität der in der „Psychopathia sexualis“ beschriebenen Devianzen. So werden beispielsweise auch der Masochismus und Sadismus eingehend beschrieben respektive beide Termini von Krafft-Ebing überhaupt erst geprägt. Häufig werden in diesen Kapiteln Extrembeispiele angeführt, mit welchen eine Identifikation im Großen und Ganzen schwer möglich erscheint. Erst mit der Zeit werden Vermischungen von dem der weiblichen Passivität zugedachten Masochismus und dem der männlichen Aktivität zugedachten Sadismus als Elemente, die in allen Menschen vorkommen, beschrieben. Eine weniger starre und mehr Grenzen öffnende Sicht, was Oosterhuis als Ansatz einer im weiteren Sinne alle Menschen umfassenden Bisexualität bezeichnet, stellte sich in den letzteren Auflagen vermehrt ein.(9) Die darin zum Ausdruck kommenden Ähnlichkeiten mit den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ werfen ein aufhellendes Licht auf das oft antagonistisch gezeichnete Bild von Richard von Krafft-Ebing und Sigmund Freud.

Wollte Krafft-Ebing zu Beginn noch die „kranken“ kongenitalen Perversen vor dem Strafgesetz mit Hilfe des psychiatrischen Gutachtens schützen, sich dabei allerdings noch nicht gegen die eigentliche Ursache, also den Passus im Strafrecht selbst auflehnte (10), so trat bei Krafft-Ebing seit den 90ern auch ein merklicher Wandel ein. Beispielsweise bekannte er sich in den nun folgenden Auflagen zur eindeutigen Streichung der diskriminierenden Strafparagraphen. Ein Gesinnungswandel, der so weit ging, dass Krafft-Ebing persönlich die von Magnus Hirschfeld initiierte Petition zur Aufhebung des §175 unterzeichnete. Oosterhuis fasst diesen Wandel konkret zusammen: Hatte er anfangs den Untergang Griechenlands und Roms als warnendes Beispiel für die Folgen des Lasters beschworen, glaubte er nun, daß der Uranismus sehr wohl mit geistiger Gesundheit und sogar mit intellektueller Überlegenheit vereinbar sei. Es handle sich nicht um ein pathologisches Phänomen, sondern um einen biologischen und psychologischen Zustand, der zwar mehr oder weniger zu bedauern, aber als natürliches Schicksal hinzunehmen sei.(11) Es stellt sich also die Frage, welche Faktoren den Psychiater zu dieser Revision verleiteten.

 

Homosexuelle als Hauptkonstrukteure ihrer eigenen Identität

Michel Foucaults radikale Annahme einer ausschließlich den „mächtigen“ Wissenschaften und in diesem Falle der Medizin zuzurechnenden diskursiven Konstruktion der Sexualitäten (12), erscheint mir in diesem Ausmaß schwer nachvollziehbar zu sein. Die Menschen waren nicht nur passive „Marionetten“ innerhalb dieser Konstruktion, sondern vermochten den Mediziner Krafft-Ebing durchaus zu beeinflussen. Die Autobiographien belegen durchaus ein stellenweise renitentes Verhalten gegen die Konnotation des Krankhaften, wofür folgende Kritik eines Urnings aufschlussreich ist: Anomal ist diese Erscheinung [die Homosexualität; Anm. H.O.] unter allen Umständen, dem Wort krankhaft liegt aber noch eine andere Bedeutung bei, die ich in diesem Falle nicht zutreffend finden kann […]. (13)Der Autobiograph begründet diese „andere Bedeutung“, die eine Bezeichnung von Krankheit unzulässig erscheinen ließe, mit dem Hinweis auf Homosexualität als natürliche Sexualvariante, die zwar in quantitativem Sinne der zahlenmäßig größeren heterosexuellen Variante gegenüber abnormal wäre, aber aufgrund der gesellschaftlichen Verächtung nicht normal ausgelebt werden könne und allein deshalb krank und neurotisch mache. Die Formel „soviel Kränkung, dass tatsächlich Krankheit entsteht“ muss auch im Kontext der Fremdwahrnehmung durch den Psychiater gesehen werden. Offenkundig durch Repression gehäuftes neurotisches Verhalten konnte als pathologisch angesehen werden, die wahre Ursache wurde allerdings nicht oder besser zu spät beachtet. Es bleibt zu bedenken, dass Diskurse, selbst wenn diese tatsächlich zunächst ausschließlich von Medizinern geführt worden wären, eine Eigendynamik angenommen haben, sodass ein Ausbrechen aus einem Mainstream, sobald sich ein solcher einmal etabliert hatte, wohl schwer möglich gewesen wäre. Die Krankheit blieb im Gedächtnis vieler bestehen.

Gesellschaft und deren Strafrecht wurden in den Autobiographien nicht selten als gemeinsamer Feind von außen wahrgenommen, was die Autobiographen stellenweise von einem bekennenden „ich“ zu einem kollektiven „wir“ zusammenschweißen ließ. Das in diesem Kontext häufig wiederkehrende Motiv, für die rechtliche Besserstellung künftiger „Urninge“ zu schreiben, kann leicht zu dem Schluss führen, es hätte sich bei der „Psychopathia sexualis“ um eine kohärente politische Plattform gehandelt, auf der eine homogene Gruppe von Menschen gesprochen hätte. Klaus Müller splittet daher auch die autobiographischen Charaktere heterogen in den „Asketen“, in das sich ständig in Selbstmitleid sehende „Opfer“, in den „selbstbewussten Typen“, der zu seiner Neigung mit Stolz steht und in den „normalen Homosexuellen“, der zwischen ausgelebter Sexualität und gesellschaftlicher Anpassung laviert, auf. (14)

Dieses quasi kollektive Selbstbewusstsein bestand zunächst darin, zu erkennen, anders als die anderen zu sein. Es folgte also einer eindeutigen Grenzziehung zwischen Heterosexualität und deren Konterpart und lässt immer wieder Selbstrechtfertigungen erkennen. Dazu bedurfte es allerdings nicht nur eines Namens, um dieses Anderssein benennen und daher erst bei sich selbst und anderen erkennen zu können, denn, wo kein Name, da keine Existenz und mithin auch keine Identität. Zwar war der Name, also etwa „Homosexualität“, bereits vorher existent, doch bedurfte es auch eines „Forums“, um diesen Namen weiter zu tragen. Dass dieses „Medium“ in der Form des psychiatrischen Lehrbuchs einen seriösen Hintergrund hatte, half anfangs wohl nicht wenigen, um sich dem absolut Fremden mit vorsichtigen Schritten zu nähern. Denn nicht nur Autobiographen wurden angesprochen, sondern gerade auch jene „Urninge“, die nicht selbst schrieben, aber sich nun gezielter informieren konnten. Der damalig wissenschaftsgläubige Zeitgeist erlaubte dem Psychiater, gerade in der äußeren Sphäre als quasi „Administrator oder Moderator“ dieses Forums aufzutreten. Mit der Zeit gesellte sich freilich eine Eigendynamik hinzu mit deren Zunahme, meiner Annahme zur Folge, der Psychiater immer weiter in den Hintergrund trat und, was die Identitätsbildung betrifft, zum bloßen „Moderator“ verkam.

Die homosexuelle Identität entwickelte sich indes nicht durch die Psychiatrie alleine, sondern durch in deren Kontext sich formierende schablonenhafte Idealtypen, denn Sexualität bildete vielmehr den inneren Kern der Erzählungen vom Selbst, und das perverse Begehren war mit der individuellen Identität verbunden und mit Signifikanz beladen. […] Sexuelle Identitäten kristallisierten zu narrativen Mustern und waren in jeder Hinsicht sozialen und nicht-psychischen Ursprungs. (15)In diesem inne bestimmten nicht nur Ärzte und vor allem Homosexuelle selbst die Diskurse, sondern auch die Diskurse die Identitäten und so gesehen wurden die „ersten“ Homosexuellen durch diese Diskurse konstruiert.

Ein Beispiel dafür, wie sehr auch die Betroffenen selbst diesen Diskurs zu beeinflussen vermochten, liegt in der beinahe kollektiven Ablehnung der Effemination. Die Tatsache eines gemeinsam vorhandenen Feindes von außen vermag vielleicht ein lockeres Wir-Gefühl zu kreieren, nicht aber reicht eine vorhandene Diskriminierung für eine Identifikation selbst aus. Ebenso scheint mir die alleinige Formel „Homosexualität ist alles, was nicht Heterosexualität ist“ als keineswegs eine homosexuelle Identität ermöglichend. Die nun folgenden Auszüge der Autobiographie eines 31 Jahre alten Homosexuellen erscheinen mir gerade in ihrer Widersprüchlichkeit anschaulich für eine sich langsam formierende Identitätsbildung zu sein, wonach Männlichkeits(vor)bilder auch beim Antitypus des „normalen“ Mannes, also des Homosexuellen, internalisiert waren und deshalb in Konflikt mit der konträren Sexualität kommen mussten:

Von da ab [ab dem 22. Lebensjahr; Anm. H.O.] bevorzugte ich das Militär. Meine Militärbekanntschaften verschlangen ein Vermögen, trotzdem fürchtete ich mich vor Erpressungen. […] Eine Liebe, wie ich sie gegenwärtig besitze, habe ich nie geahnt. Mein 15jähriger bildschöner Junge liebt mich grenzenlos. […] Ich rauche nicht und trinke nicht, kleide mich sorgfältig, aber nicht lächerlich und habe eine durchaus männliche Erscheinung und Auftreten. […] In meiner Kindheit spielte ich mit Vorliebe mit Puppen, machte Handarbeiten und Stickereien und besonders gerne frisierte ich meine Schwester. Mit Vorliebe kleidete ich mich als Mädchen und wünschte oft weiblichen Geschlechtes zu sein. Auch jetzt, bei Vereinigung mit meinen Freunden fühle ich mich öfters als Weib. Päderastie [hier: anale Penetration; Anm.: H.O.] ist mir ekelhaft; diese gestatte ich nie; ein einziger Versuch verursachte mir auch Schmerzen. Aus getäuschter Liebe habe ich wiederholt Selbstmordversuche gemacht.(16)

Der Text verrät zwei Aspekte: zum einen den in vielen Autobiographien wiederkehrenden Topos der bewussten Schilderung von Männlichkeit. Militarismus, das Hingezogenfühlen zum Soldaten und zum besonders virilen Mann begegnen weitaus häufiger als erotische Anziehung zum effeminierten Typus. Gleichzeitig verweisen Kindheitserinnerungen, in diesem Falle besonders anschaulich, auf einen zeitgenössischen femininen Partialhabitus. Das heutige Klischee vom „schwulen Macho“, der sich seine Virilität durch bewusste Distanzierung von der „Tunte“ zu beweisen versucht, weist Kontinuität auf. Krafft-Ebing ließ sich jedenfalls „überzeugen“, indem er viriles Auftreten und Erscheinungsbild zwar – im Gegensatz zu seinen anfänglichen Erwartungen – attestierte, doch vom inneren Kern her blieb die psychische Anziehungskraft durch dasselbe Geschlecht als Grundlage für den unmännlichen Antitypen jener Zeit bestehen. Doch durch die fast kollektiv und bewusst Grenzen ziehende Annahme „wir sind nicht weibisch“, haben die Autographen selbst die homosexuelle Identität maßgeblich konstruiert. Oosterhuis bringt dies als Abkehr von einer bloßen „gender-inversion“ hin zu einer freien Objektwahl auf den Punkt: it became possible that men who in homosexual interaction assumed a male gender role and who could not identify themselves with an identity that was based on gender inversion now began to identify themselves as homosexuals.(17) Es ist zu ersehen, wie tief kulturelle Geschlechtergrenzen in den Individuen verankert waren, damals nicht zuletzt durch eine militärisch-männliche Pädagogik gefördert. Die Möglichkeit der Ent-Effeminisierung trug maßgeblich zur homosexuellen Identität bei.

Der zweite Aspekt einer homosexuellen Identität besteht in einer Vermengung zwischen den reinen homosexuellen Akten und der Übernahme eines von nun an angesprochenen Bildes der romantischen Liebe und Freundschaft. Wäre Homosexualität von den Betroffenen nur auf ersteres reduziert geblieben, ähnlich wie zuvor die Sodomie, wäre es zu keinem Ansatz von Identifikationsmöglichkeiten gekommen. Durch diese ganzheitliche Sicht des homosexuellen Subjekts wurde denn auch der erste Schritt in Richtung eines eigenen homosexuellen Lifestyles gesetzt, der zunächst einmal das Bild von Ehe, Familie und Kinder konterkariert.

Auch wenn das „homo“ bei Kertbeny griechischen Ursprungs ist und „gleich“ meint, verwende ich es im Titel als Lateinisch „Mann“ bewusst falsch: In einer Zeit, als der Mann zunehmend sexualisiert wurde, und sich die Einheit von sex, gender und prokreativer Sexualität zu einem wesentlichen Ansatz von Männlichkeit entwickelte, schien der theoretische Diskurs nichts Abweichendes zuzulassen. Dennoch öffneten sich zu jener Zeit die Grenzen. An sich ein eklatanter Widerspruch.


Schlusswort

Für die Beantwortung meiner eingangs gestellten Frage sei zweierlei erwähnt: Kenntnis und Wissen vom Anderen setzt ja erst die Existenz eines möglichst breit wirkenden Mediums voraus. Ein integraler Bestandteil einer kollektiven Identität ist der Name, durch welchen erst eine Selbstdefinition über die Abgrenzung vom Anderen möglich wird. Erst nach einem solchen Schritt mag es besonders phantasievollen und mutigen Geistern gelingen, die durch stete Grenzen gezeichneten Klassifikationen hinter sich zu lassen und Geschlechtergrenzen überhaupt zu überwinden. Sobald dies einmal erreicht sein sollte, werden die Klassifikationen von Hetero- und Homosexualitäten wiederum obsolet werden, denn sowohl die Entwicklung des Begriffes der Homosexualität, als auch die Konstruktion des homosexuellen Subjekts sind immerhin aus einem sexualisierten Geschlechterverständnis hervorgegangen. Es ist bezeichnend, dass die „Tunte“ in der „Psychopathia sexualis“ als eigenständiger Typus noch nicht vorkommt. Gerade sie hätte die Lächerlichkeit der von Virilität durchsetzten Gesellschaft vor Augen geführt – eben ein auch heute noch für staatliche Geschlechtervorstellungen gefährliches und sehr politisches Wesen.

Durch die „Psychopathia sexualis“ wurde ein Forum geschaffen, das die Entwicklung einer homosexuellen Identität ermöglichte und begünstigte. Präziser wäre es, von Identitäten zu sprechen, von einer Einheit durch Vielfalt. Was für die Gegenwart, wie für die Zukunft, als wünschenswert nzusehen ist, ist, dass eine solche Vielfalt nicht zur hohlen Phrase verkommt.

Ich habe aufgezeigt, dass bei der Identitätsfrage nicht nur der Fokus auf Richard von Krafft-Ebing gerichtet werden sollte, wenngleich ihm natürlich eine zentrale Rolle zukommt. Es geht heute nicht um ein Verurteilen dieser Person. Genauso wenig eht es um eine Entschuldigung. Es geht eben um den Versuch eines Verstehens damaliger Zusammenhänge.

 

Anmerkungen:

 

(1)Es genügt hier den Begriff der Identität nur marginal etymologisch zu definieren. Vgl. BROCKHAUS (92000), 401; Duden, Herkunftswörterbuch Bd. VII (³2001), s.v. Identität, 357, Sp. II. Rauchfleisch splittet den modernen Geschlechtsidentitätsbegriff anschaulich in Kern-Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle und Geschlechtspartner-Orientierung auf. Bezieht sich erstere auf die in den anfänglichen Lebensjahren sich fixierende angeborene wie auch erlernte Zugehörigkeit zu einem der beiden biologischen Geschlechter (sex), so lässt sich der zweite Aspekt auf erlernte, den Geschlechtern (gender) zugeordnete Verhaltensweisen abstellen, die historisch sehr different sein können. Aus den ersten beiden Komponenten ergibt sich dann anhand der zur Verfügung stehenden sexuellen Orientierungen eine breite Palette von Homo-, Bi-, Trans- und Heterosexualitäten. Vgl. RAUCHFLEISCH (2002), 29f.

(2) Grob können der Essentialismus und der Konstruktivismus voneinander geschieden werden, wobei sich dies nicht nur auf die Sexualitätsgeschichte reduzieren lässt, sondern auf die Geschlechterrollen selbst Anwendung finden lässt. Vgl. HERGEMÖLLER (1999), 43ff.; EDER (2002), 229ff. Als eine sehr weitgehende konstruktivistische Position lässt sich etwa die von Judith Butler ansehen, die selbst die biologischen Geschlechter als konstruiert ansieht, da Menschen in ihrem Gedächtnis sich erst der biologischen Unterschiede der sexes in ihrer reproduktiven Dimension bewusst werden müssen. Vgl. SCHMALE (1998), 17ff.

(3) Vgl. KENNEDY (1997), 29, 31ff; BLASIUS/PHELAN (1997),62. Ulrichs gebrauchte nie den von Kertbeny geprägten Begriff „Homosexualität“, da dieser, nebst anderen Gründen, nur den Sexualakt, nicht aber die gesamte Seele fokussiere. Vgl. KENNEDY (1997), 42, dort Anm. 13, 14.; Vgl. SOMMERVILLE (1997).

(4) Fone rastert den Homophobiebegriff auf und zählt auch „narzisstische Vorurteile“ zu diesem. Darunter ist die Intoleranz oder die bewusste Ignoranz von Menschen, die anders sind, gemeint. So besehen, können Schwule Lesben und/oder Effeminierten gegenüber (und vice versa) homophob sein. Vgl. FONE (2000),6.

(5)Vgl. GLORIA (2001), 278.

(6)KENNEDY (1997), 36.

(7)Vgl. EDER (2001), 155f.; KRAFFT-EBING (1997), 428.

(8)Vgl. KRAFFT-EBING (1997), 259, 271 dort Beobachtungen 141ff.

(9)Vgl. KRAFFT-EBING (1997), 163ff. (Kapitel „Masochismus und Sadismus“); OOSTERHUIS (1998), 366f.

(10)Zu Perversion und Perversität vgl. ausführlich KRAFFT-EBING (1997), 428ff. Einvernehmliche homosexuelle beischlafähnliche Handlungen, Krafft-Ebing erwähnt hier einen weitaus breiteren Rahmen als die bloße „Immissio penis in corpus vivum“, wurden in Deutschland nach Grundlage des §175, in Österreich – für Lesben wie für Schwule - nach Grundlage des §129Ib pönalisiert. Vgl. KRAFFT-EBING 427f.

(11)OOSTERHUIS (1998), 373f.

(12)Vgl. EDER (2002), 12ff; EDER (2001), 158; OOSTERHUIS (1998), 362.

(13)KRAFFT-EBING (1997), 430.

(14)Vgl. MÜLLER (1991), 235-253.

(15)OOSTERHUIS (1998), 380.

(16)KRAFFT-EBING (1997), 279f.

(17)OOSTERHUIS (2000), 251

 

Literatur:


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