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Zitieren sie diesen Text bitte folgendermaßen:

Kührer, Florian:

Marcello Mastroianni - Autopsie einer Autobiographie. In: Webportal für die Geschichte der Männlichkeiten des Instituts für Geschichte der Universität Wien,

http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/maennergeschichte/biographien/mastroianni_01.htm


Marcello Mastroianni


Autopsie einer Autobiographie

1 Vorwort
Marcello Mastroianni gehört zu einer neuen Generation von Künstlern. Er ist Teil der Nachkriegsgeneration, ist also wie die meisten seiner Zeit vom Zweiten Weltkrieg geprägt. Mastroianni schafft den Sprung aus der Provinz nach Europa, liebt das Reisen und das Abenteuer. Er schlägt sich mit dem „latin lover – Image“ herum, das er rundweg dementiert. Trotzdem war sein Eindruck auf Frauen durchwegs ein anziehender. Mastroianni steht für eine gewisse Leichtigkeit, für einen unkomplizierten Zugang zum Schauspielerberuf und stellt sich immer wieder als Anhänger einer konträren Mentalität zu Hollywood dar.
Marcello Mastroianni steht für eine bestimmte Gesellschaftsschicht der Nachkriegszeit, für eine neue Männlichkeit, die weniger von sich selbst verlangt, die einen verspielten Umgang mit dem Schicksal hat. Europa aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs wieder aufzubauen wäre allein mit Menschen seines Schlages nicht geglückt. Mastroianni und Seinesgleichen sind aber Wegbereiter in eine neue, kosmopolitische Zeit, aber auch in ein Europa der Regionen.

2 Familie und Heimat
Herr Professor, wenn ich manchmal nicht einschlafen kann, stelle ich mir vor, ich würde mich im Ersten Weltkrieg befinden, in einer schützenden Höhle, während es draußen regnet. Wie lässt sich das erklären? (1)

2.1 Kindheit
Mastroianni selbst sagt, dass er nicht den Eindruck eines Muttersöhnchens erwecken will, stellt aber fest, dass seine Mutter die wichtigste Person in seiner Kindheit war. Genauso spielen aber auch sein Vater und sein Großvater eine positive Rolle in seinem Leben, auch diese beiden konnten ihm ein Gefühl von Geborgenheit geben. Mastroianni erweckt den Eindruck, in einer soliden Umgebung aufgewachsen zu sein. Nur einmal erwähnt er den Generationenkonflikt, der von Zeit zu Zeit zwischen seinem Vater und seinem Großvater aufkam. Die Berichte aus seiner Kindheit sind mit Sicherheit etwas romantischer dargestellt, als sie war, im Grunde hat er sie aber positiv erlebt.

2.2 Familie und Beruf
Mastroiannis Eltern begleiteten stolz die Karriere ihres Sohnes, sie gingen ins Kino, um seine Filme zu sehen. Selber war er jedoch kaum imstande, eine Familie zu gründen: Ach ja, es ist, als ob ich immer ein Leben in Klammern geführt hätte, in der Erwartung, dass irgendwann, später, das richtige Leben beginnen würde, aber vielleicht (ohne Übertreibung) hat es nie eines gegeben. Gewiss hat das mein Verhältnis zu den Menschen beeinträchtigt, die mir wichtig sind. (2) Mastroianni ist wohl ein sensibler, gefühlvoller Mensch. Er geht aber völlig in seinem Beruf auf. Seine Emotionen gegenüber seiner Familie konnte er nie so richtig zum Ausdruck bringen. Ein gewisser Mangel an Sesshaftigkeit hat dazu sicher beigetragen.
Marcello Mastroianni mochte kleinere Sets in familiärer Atmosphäre.(3) Seine eigentliche Familie, die ihn tagtäglich umgab, war wohl das Filmteam, mit dem er gerade gearbeitet hat.

2.3 Heimat
Schon als Kind wird Marcello Mastroianni vom Fernweh geplagt. Die verlockendesten Paradiese sind für ihn die, die wir noch nie gesehen haben, die Orte und Abenteuer, die wir uns vorstellen...die wir eines Tages erleben werden, wie in einem Traum, der wahr geworden ist.(4) Er liebt sein Heimatdorf Arpino, Rom, hat italienischen Stolz, ein Nationalbewusstsein (dem nichts Radikales anhaftet), er fühlt sich aber vor allem als Europäer, nimmt Europa auch immer als (positiven) Vergleich zu Amerika. Das Reisen ist seine Leidenschaft, wie ein Baum streckt er die Äste in den Himmel – seinen Wurzeln bleibt er sich aber immer bewusst.

3 Der Schauspieler
Was für ein merkwürdiges Tier ist der Schauspieler, der in eine Figur nach der anderen schlüpft, der erfundene Geschichten erlebt? Wer ist er in Wirklichkeit? (5)

3.1 Handwerk und Sendung
Es ist eine gewisse Leichtigkeit, die den Stil Marcello Mastroiannis und wohl den italienischen Film im Gesamten vom Mainstream unterscheidet. Auf der einen Seite sieht Mastroianni seinen Beruf als Handwerk. Am Beginn seiner Karriere darf er nicht sehr wählerisch sein, um seine Existenz zu sichern. Allerdings ist sein erstes professionelles Engagement am Theater schon drei Mal lukrativer als sein Bürojob. Auf der anderen Seite bewahrt sich der Schauspieler eine Art von Sendungsbewusstsein, indem er in seiner Autobiographie oftmals „Schnittstellen“ erwähnt, die ihn und historischen Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen des Lebens verbinden:
a) Mastroianni erzählt von seiner Heimat in Italien und lässt nicht unerwähnt, dass Cicero genau 2122 Jahre vor ihm, aber nur ein paar Schritte von seinem Zuhause entfernt, geboren wurde.
b) Wenige Seiten später spricht er von Dreharbeiten in einem Schloss in der Umgebung Londons. Dieses Schloss war zum Museum umgestaltet worden und in einem Raum stand das Bett, in dem Winston Churchhill zur Welt gekommen war. Nach ein paar Tagen Dreharbeiten schlief Mastroianni in diesem Bett: Welchen Schaden habe ich dem Bett zugefügt? Churchhill wurde darin geboren, und dann hat Mastroianni darin geschlafen.(6)
c) Bei seiner Reise nach New York wird Mastroianni von Lee Strasberg, dem Leiter des Actors’ Studio, eingeladen. Dort waren laut Mastroianni alle Schauspieler da, mit Ausnahme von Marlon Brando waren wirklich alle da. (7)
Genauso wie Mastroianni seine Berufung zum Schauspieler mit dem Bericht über verschiedenste Begegnungen und „Schnittstellen“ seines Lebens quasi legitimiert, sieht er sich umgekehrt erst durch seine Arbeit als Schauspieler in der Lage, der internationalen Prominenz zu begegnen. Er fühlt sich privilegiert, erzählt von Möglichkeiten, die erst sein Beruf eröffnet: das Reisen, oft in die entlegensten Winkel der Erde, Begegnungen mit Berühmtheiten, Einblick in Theater- und Filmkultur.
Mastroianni sieht sich und seine Familie als „einfache Leute“, er sich also auch als einfachen, umkomplizierten Menschen. Trotzdem sucht er auch in seiner Verwandtschaft nach dem Konnex zu Kunst und Schöpferischem:
a) Er erwähnt die Hände seines Onkels und bezeichnet sie als starke „Bildhauerhände“. Seine Familie spielt eine große Rolle, sein Vater und sein Großvater waren beide Tischler – Handwerker – und so sieht Mastroianni die beiden, und in einer gewissen Hinsicht auch seinen Beruf.
b) Gleichzeitig erzählt er von seinem Großvater, dass dieser stolz gewesen sei auf den Mitbürger Cicero und dass er diesen auch gern zitiert hätte: „Vitam regit fortuna, non sapientia“, sagte er zu mir. Dann seufzte er: „Ach ja, das Glück beherrscht das Leben, nicht die Weisheit.“ (8)

3.2 Täuschung
Immer wieder erwähnt Mastroianni, dass sein Beruf mit Täuschung zu tun hätte, und nimmt Bezug auf die italienische Sprache: Wir sagen recitare, rezitieren, und das klingt bereits nach etwas Vorgetäuschtem, Falschem, Gekünstelten.(9) Kurz zuvor sagt er, dass ihm das französische Wort „jouer“, das soviel wie „spielen“ bedeutet, besser gefällt. Mastroianni meint jedoch, dass fünfzig Prozent der Persönlichkeit des Schauspielers in die verschiedensten Rollen einfließen, mehr noch findet er es wahrscheinlich, dass einem Schauspieler viele Rollen gar nicht so fremd sind wie man denkt. Ein paar Seiten später erzählt Mastroianni von einem Interview, das er gemeinsam mit Vittorio Gassman gab. Darin beschreiben sie den Schauspieler als eine leere Schachtel, die man immer weiter mit Figuren füllt. So verfügt der Schauspieler über ein immer größeres Repertoire an Rollen und Typen, die er von Zeit zu Zeit hervorholen kann, um eine Figur zu spielen.

3.3 Freude am Beruf
Markant ist, wie sich Mastroianni über seine amerikanischen Kollegen amüsiert. Zum einen schlägt seine antiamerikanische Gesinnung (vor allem Anti-Hollywood) durch und zum anderen beschreibt er wohl so am genauesten, was seine Einstellung und Philosophie in Bezug auf seinen Beruf ist. Mastroianni erzählt vom Leiden des Schauspielers, von den Qualen mancher Mimen, in eine Figur schlüpfen zu müssen: Die einen schließen sich in einem Kloster ein, die anderen gehen auf einen Berg, um nachzudenken. (10) Mastroianni versteht diese Probleme nicht, vergleicht das Schauspielen mit Kinderspielen, bei denen sie sich ja auch nicht geplagt hätten. Im Gegensatz zu der laut Mastroianni „amerikanischen“ Einstellung zeugt er selbst von einer spielerischen Leichtigkeit: Ich behaupte, diesen Beruf übt man aus, um Spaß zu haben. (11)

4 Reisender, Abenteurer, Visionär
Ich erinnere mich an mein Vorhaben, den Tiber anzuheben und darunter eine Straße zu bauen. (12)

4.1 Reisen und Abenteuer
Für Marcello Mastroianni ist das Reisen die größte Leidenschaft neben dem Schauspielerberuf. Er ist dankbar, das er durch seine Arbeit in der Welt herumkommt, er sieht sich in dieser Hinsicht als privilegiert. Bewusst sucht er sich Drehorte, die ihn an Plätze bringen, die „abenteuerlich“ anmuten. „Ja, ich erinnere mich“ entstand während Dreharbeiten in den Bergen Portugals. Mastroianni graut vor der Vorstellung, sich bei Filmen auf keine Wagnisse mehr einzulassen.
Außerdem baut er eine Beziehung zu vielen Städten der Welt auf:
Paris und Rom: meiner Meinung nach sind das die beiden schönsten Städte auf der ganzen Welt. (13)
New York gefällt mir sehr.(14) (N. Y. stellt eine der wenigen Ausnahmen hinsichtlich seiner negativen Einstellung zu den USA dar.)
Darin besteht die Kraft der Neapolitaner: in ihrem Charakter, in ihrer Tradition, in der tiefen Verbundenheit mit ihrer Stadt...eine wahre Hauptstadt des Mittelmeerraumes. (15) Für Mastroianni ist das Reisen eine Ausfaltung der paradoxen Sehnsucht nach der Zukunft, in die er bis ins Alter mit Zuversicht blickt. Ein weitere Mosaikstein in seinem optimistischen Weltbild.

4.2 Visionär und Weltverbesserer
Marcello Mastroianni hat das Studium der Architektur begonnen, jedoch keinen Abschluss gemacht. Seit Jahren schon glaubt er daran, dass eine Untertunnelung des Tiber das Verkehrsproblem Roms lösen könnte. Überzeugt verteidigt er seine Idee, selbst wenn die Chance auf eine Realisierung relativ gering ist.
In ähnlich naivem Stil geht er auf die Armut in der Welt ein: Warum baut man nicht dort Fabriken, Schulen, Straßen, wo man sie braucht? (16)
Naiv und unrealistisch sind Mastroiannis Lösungsversuche für die Probleme der Welt: In Dingen des persönlichen Lebens hat Mastroianni Lösungen parat, aber wenn es um Lösungsansätze für „globale“ Angelegenheiten geht, tritt er als Phantast auf.

5 Körperlichkeit und Schönheit
„Ja, die Figur ist nämlich so eine Art Luftikus. Paul Newman hat dafür zuviel Persönlichkeit.“ „Sehr gut“, sagte ich. (17)

5.1 Körper und Schauspiel
Mastroianni ist sich bewusst, dass sein Körper ein wichtiges Ausdrucksmittel ist, besonders in seinem Beruf als Schauspieler. Seiner Meinung nach hat der Körper eine ganz bestimmte Funktion, er bringt den Gemütszustand und die Haltung eines Menschen zum Ausdruck. So wie Mastroianni seinen Beruf als (angenehmes) Handwerk sieht, ist sein Körper das Werkzeug. Dies ist keine Abwertung, Marcello Mastroianni ist sich seiner Begabung bewusst. Er ist dankbar für sein Schicksal, für seinen Beruf, der ihm viele Möglichkeiten eröffnet hat. Trotzdem ist er manchmal fast verwundert über den Verlauf seiner Karriere: Er selbst meint, dass seine Nase zu kurz und seine Beine zu dünn seien. Fast schon amüsiert erzählt er von seinem väterlichen Freund, dem großen italienischen Regisseur Federico Fellini (1920 – 1993), der Mastroianni dem Schauspieler Paul Newman vorgezogen hatte, da ihm dieser zu bedeutend war. Fellini aber wollte mit Mastroianni ein Allerweltsgesicht. Dieser war nicht beleidigt, sondern stand freudig für den Film zur Verfügung. Ein anderes Mal sagte Fellini zu Mastroianni, dass er ein Gesicht wie ein Bauer und auch solche Hände hätte. Um nun Mastroianni für einen Film intellektueller und zerbrechlicher wirken zu lassen, schlug Fellini vor, ihm die Brusthaare zu entfernen. Fast schockiert erzählt der Schauspieler darüber: Also wurden mir die Haare mit Wachs entfernt, ausgerissen! (18) Mastroianni sieht sich wohl als einen modernen, sensiblen Mann der gewisse Sexismen nicht notwendig hat. Trotzdem hat man in diesem Moment den Eindruck, als käme er sich ohne Brusthaar als „etwas weniger Mann“ vor.

5.2 Sexappeal und Schauspiel
Zumeist jedoch will er weg vom „latin lover – Image“, seiner Ansicht nach ist dieses vom amerikanischen Journalismus konstruiert worden. Er widerlegt es – beleidigt über diese Engführung – mit einigen Beispielen über gegensätzliche Rollen in seiner Schauspielkarriere: Nach „La dolce vita“ habe er einen Impotenten gespielt, später einen „widerlichen, betrogenen Ehemann“, einen schwangeren Mann und einen Homosexuellen. Mastroianni hat es nicht notwendig, nur Rollen zu spielen, die den „latin lover“ beinhalten, fast krampfhaft wehrt er sich dagegen. Er weiß aber um seine „Macht“ in der Welt des Films und des Theaters: Der Schauspieler ist schließlich der Bindestrich zwischen Autor und Publikum. Wenn das Publikum von einem Gesicht, einem Körper nicht fasziniert ist, ist es weniger interessiert an der Geschichte. (19)
Offensichtlich gesteht er sich selbst Sexappeal zu sonst würde er nicht behaupten, dass er als Schauspieler Karriere gemacht [hat], nicht als Schönling. (20)

6 Beziehungen und Liebe
Ich liebe auf long distance, also per Ferngespräch, per Telefon. Auf diese Weise bleibt man zwar in Kontakt, aber es ist auch ziemlich abstrakt. (21)

6.1 Beziehungen und Kinder
Sorgfältig vermeidet er Marcello Mastroianni, seine Beziehungen in seiner Biographie zu erwähnen. Wohl erzählt er kurz von seinen Töchtern Chiara und Barbara. Dass aber die eine Tochter aus der Ehe mit der Schauspielerin Flora Carabella stammt und die andere aus einer vorübergehenden Beziehung zu Cathérine Deneuve, erwähnt er nirgends. Ebenso bleibt in der Biographie verborgen, dass seine spannungsreiche Ehe mit Carabella trotz vieler Affären erst 1990 getrennt wurde.


6.2 Liebe und Liebesleben
Wohl aber misst er der Liebe Bedeutung bei. Seine Männlichkeit ist eine sensible, zumindest in der Theorie. Mastroianni spricht offen über die Liebe, bezeichnet sie als „eine Art Kristallisierung“. Magisch sieht er ihre Wirkung auf den Menschen, er will und kann sie nicht durchschauen, sieht sie als Geschenk wie vieles in seinem Leben. Ein solches Geschenk war wohl eine Bahnfahrt in der Zeit der Kriegswirren: Der Zug fährt in einen Tunnel; es wird stockfinster, und in diesem Augenblick, während alles ganz still ist, küsst mich eine Unbekannte auf den Mund.(22) So flüchtig dieses Erlebnis auch war, es war doch eine prägende erotische Erfahrung. Immerhin widmet er dieser Begebenheit noch ein ganzes Kapitel.
Der „latin lover“ ist in diesem Kapitel wohl zu vernachlässigen, da er ja in Mastroiannis Augen eine reine Konstruktion von Journalisten war. Nur einmal spricht er von seinen Leistungen, wenn er eine Frau kennen gelernt hat oder ein „Abenteuer“ hatte, er sagt, dass er diesbezüglich ein „ganz normaler Mann“ sei. Für Mastroianni ist das Liebesleben eine Privatsache, die selbst das Team, dass seine Autobiographie mit ihm produziert hat, nichts anging.

7 Bildung und Weltbild
Mein Museum besteht aus den Orten, an denen ich drehe. (23)

7.1 Bildung und Kultur
Marcello Mastroianni hatte keine fertige akademische Ausbildung, was ihm gerade am Beginn seiner Theaterkarriere oft Schwierigkeiten bereitet hat. Darum musste ihm Schauspielkollege Vittorio Gassmann bei den Proben zu „Oreste“, einem Versdrama von Vittorio Alfieri, heimlich Lektionen erteilen, da ihm die Verse große Schwierigkeiten bereitet haben.
Mastroianni erwähnt, dass er neben seinem Beruf wenig Interessen hätte. Dies lässt darauf schließen, dass weder die Gesellschaft, in der er sich bewegt, noch er von sich selbst etwas wie großes Allgemeinwissen oder gar „Universalbildung“ verlangt. Weiter „gesteht“ er, in „geistiger und kultureller Hinsicht“ nicht sehr bewandert zu sein. Museen, ja selbst Kino und Theater langweilen ihn, dort hat seiner Meinung nach nur der Schauspieler selber Spaß, da er sein Bedürfnis, sich zu produzieren, auf diesem Weg befriedigen kann.

7.2 Weltbild
Nur manchmal klingt in „Ja, ich erinnere mich“ ein Ansatz von persönlichem Weltbild und Erklärung durch:
New York gefällt mir auch deshalb, weil es gleichzeitig prachtvoll und heruntergekommen ist. (24)
Heilige und Helden irren sich nie. Wichtig erscheint mir dabei der Zusatz: (Im Übrigen sind mir Heilige und Helden unsympathisch.) Es muss Schwankungen geben, ein Auf und Ab. (25)
Mir gefällt diese kleine, stille Welt, bevölkert von Versagern, die gleichzeitig voller Enthusiasmus, voller Träume und Illusionen sind. ...Aber das Tragische grenzt bei ihm [Tschechow] an das Lächerliche, weshalb man auch lachen muss. (26)
Es sind also die Gegensätze, die Mastroianni faszinieren, die Dialektik. Er lässt jedoch eine Vielfalt an Abstufungen zu. Es ist ein populärer Ansatz, den Mastroianni nicht konsequent verfolgt, der aber auch vom Zeitpunkt seiner Autobiographie geprägt ist. Es ist eine resümierende Sicht, die er im Alter von 72 Jahren hat: Hinter der Welt steht eine Art von Dualismus. (Meine persönliche, gewagte Frage nun: War es wieder modern, Gnostiker zu sein und ist sich Mastroianni seiner Denkansätze bewusst? Oder schwamm er einfach nahezu unreflektiert auf einer Modewelle mit?)

8 Laster
Ich erinnere mich an meine erste Zigarette. Sie war, erinnere ich mich, aus den Haaren eine Maiskolbens gemacht. (27)

8.1 Rauchen
Fünfzig Jahre lang rauchte Mastroianni rund 50 Zigaretten am Tag. Er sieht ein, dass das Rauchen ein schädliches Laster ist, gleichzeitig schlägt aber seine Abneigung gegen Amerika durch: ...bin ich den Amerikanern böse: ... Was wollen sie eigentlich? Uns Raucher in ein Ghetto sperren? Jeder will doch leben und sterben wie er will.(28) Er vergisst als Mann des öffentlichen Lebens jedoch nicht, zum Schluss die „richtige“ Botschaft mitzugeben: So: Es ist wirklich schädlich.

8.2 Autos
Marcello Mastroianni hat in seinem Leben viele Autos besessen. Mit seinem Freund und Regisseur Federico Fellini (1920 – 1993) wetteiferte er, wer öfters ein neues Auto kauft. 1996 fragt er sich: Kann man denn noch blöder sein? (29)
Offenbar werden gewisse („klassische“) Statussymbole, in diesem Fall viele teure Autos, mit der Zeit uninteressant.

9 Abneigungen
Ich erinnere mich an einen Film, „Tragico ritorno“, in dem ich in der Fremdenlegion (ausgerechnet!) landete,... (30)

9.1 Amerika und Hollywood
Marcello Mastroianni erinnert sich sehr wohl gerne an amerikanische Schauspieler, die fast zu „Ikonen“ seiner Jugend wurden: Gary Cooper, Errol Flynn, Clark Gable, Tyrone Power. Man ahmte ihre Bewegungen nach, man begeisterte sich für diese Schauspieler. Schnell weist Mastroianni aber auf die einheimischen Stars hin: Amedeo Nazzari, Anna Magnani, Aldo Fabrizi, Totò. Genauso lobt er die französische Schauspielerelite: Jean Gabin und Louis Jouvet. Mehr noch, Marcello Mastroianni meint, diese europäischen Schauspieler hätten ihm und seinen Freunden näher gestanden als die amerikanischen Kinostars.
Mastroianni sieht vor allem einen großen Unterschied in der Mentalität des europäischen und der des amerikanischen Films. Er ist der Meinung, dass man für eine Komödie „keine drei Wochen lang den Text auswendig lernen“ müsse, sondern sollte vor allem auch spontanen Humor einbringen.
Diese Abneigungen gegen Amerika und Hollywood wurzelt in der Sorge um die Dinge, die Mastroianni sein ganzen Leben lang wichtig waren: Der italienische Film, Intuition, Leichtigkeit und Unkompliziertheit. Selbst Neapel liebt er vor allem deswegen, weil diese Stadt kaum amerikanische Einflüsse aufweist.

9.2 Militär und Heldentum
Marcello Mastroianni ist wie nahezu jeder seiner Zeit vom Weltkrieg geprägt. Der junge Mastroianni musste keinen Militärdienst bei der Truppe ableisten, doch arbeitete er als technischer Zeichner in Rom. Da dem angehenden Schauspieler jede Art von Zwang zuwider war, flüchtete er aus dem bereits den Deutschen unterstellten Instituto Geografico Militare nach Venedig.
Marcello Mastroianni interessierte sich nicht für das Militär und den Krieg. Er musste sich wohl gewissen äußeren Umständen unterwerfen, tat dies jedoch nur soweit als nötig. Abgeklärt wie er zum Zeitpunkt der Autobiographie auftritt, gibt er seine „Feigheit“ und sein Desinteresse offen zu.
Helden und Heilige sind Mastroianni unsympathisch. Er mag die Perfektion nicht, die diesen Wesen anhaftet. Lieber ist ihm eine gewisse Menschlichkeit, wie es Tschechow in seinen Werken versteht, die Menschen darzustellen. So wie er sich nicht als Krieger sieht, sieht er sich auch nicht als Führernatur: Ich bin in vielerlei Hinsicht faul und auch ein wenig feig, wenn es darum geht, sich bestimmten Situationen zu stellen oder bestimmte Entscheidungen zu treffen. (31)

10 Alter
Das Leben: Ja, in einem bestimmten Alter stellt man fest, dass es einfach so vergangen ist, wie ... sst! Und das nächste Dorf ist ganz nah. (32)

10.1 Neues
Mastroianni ist zum Zeitpunkt seiner Autobiographie 72 Jahre alt. Er beschreibt sein Leben von einem abgeklärten Standpunkt aus, leugnet auch nicht, dass gewisse Situationen und Begebenheiten nun in einem anderen Licht erscheinen und er sie anders erzählt, als er sie damals erlebt hat.
Er wird im Alter nicht unbedingt vorsichtiger, er kann sich nun als Förderer unbekannter oder riskanter Projekte betätigen: Man stellt sich hinter einen Autor (...) und hält ihn über die Taufe.(33) Genauso lehnt er nun große Aufträge ab, um sich bescheidenen Projekten zuzuwenden, die er für überzeugender und vor allem abenteuerlicher hält.

10.2 Altes
Im Zuge seiner Autobiographie kritisiert er seine Filme. Er findet manche gut, manche weniger gut. Außerdem unterscheidet er zwischen Erfolg und Qualität. Mit den Kommentaren zu seinen Filmen verleiht sich Mastroianni eine gewisse Erhabenheit, man gewinnt den Eindruck, er „stünde längst darüber“. So baut er sich eine „Aura“ von Weisheit auf, auch wenn er in diesem Zusammenhang meint: Immer wieder hört man von der Weisheit des Alters! Aber sehen Sie sich doch einmal einen Alten an, wie er über die Straße geht: Zuerst schaut er rechts, dann nach links ... Aber das ist keine Weisheit, sondern Vorsicht, Angst. (34) Für Mastroianni ist die echte Weisheit die Lebensbejahung in allen Situationen, er verliert seinen Optimismus auch nicht in seinem letzten Lebensjahr. Das bekräftigt er mit seinem Credo:
Ich glaube an die Natur, an die Liebe, die Gefühle, die Freundschaft; an diese wunderbare Landschaft; an meine Arbeit, an meine Gefährten. Ich mag die Menschen. Ich liebe das Leben; und vielleicht hat das Leben deshalb meine Liebe erwidert. (35)

11 Zum Abschluss
Es ist nicht möglich, anhand eine Autobiographie und einiger Informationen rundherum ein vollständiges Bild eines Menschen zu zeichnen. Ich denke aber, dass in einem Werk wie der Autobiographie „Ja, ich erinnere mich“ die Meilensteine eines Lebens wohl erwähnt werden und somit ein Leben zumindest umrisshaft skizziert werden kann. Meine Interpretation liegt hauptsächlich in der Auswahl der Passagen, die ich behandle und in den Schwerpunkten, die ich setzte, weniger in der Auslegung der Aussagen Mastroiannis. Die Freiräume dazwischen sind keine willkürlichen Auslassungen, sondern die Dinge, die ein Mensch aus verschiedenen Gründen auch am Lebensabend für sich behält. Diese Freiräume sind dann Gegenstand der Interpretation durch viele Disziplinen und gleichzeitig das, was einen Menschen mit (genützten) Talenten zum Mythos macht.

12 Kurzbiographie
Marcello Mastroianni wird am 28. September 1924 in Fontana Liri bei Frosinone (Italien) geboren. Die Familie lässt sich 1934 in Rom nieder, wo Mastroianni aufwächst. Dort beginnt er Architektur und Volkswirtschaft zu studieren. In den Kriegsjahren ist er auch als technischer Zeichner tätig. Er gerät unter deutscher Besatzung in ein Arbeitslager, flüchtete und versteckt sich bis zum Ende des Krieges.
Nach 1945: Entdeckung durch den Regisseur Luchino Visconti, Mastroianni entwickelt sich zum gekonnten Theaterschauspieler. Ab 1948 nimmt er auch vermehrt Filmrollen an.
1950: Heirat mit Flora Carabella, aus der Ehe geht eine Tochter hervor. Wegen Mastroiannis zahlreicher Affären wird diese Ehe 1990 getrennt. Aus einer vorübergehenden Beziehung mit Cathérine Deneuve geht seine zweite Tochter hervor.
1960 gelingt ihm mit Federico Fellinis „La dolce vita“ der endgültige Durchbruch. Fellini und Mastroianni verbindet von nun an eine andauernde berufliche und freundschaftliche Beziehung. In den nachfolgenden Filmen sticht besonders die Zusammenarbeit mit Sophie Loren hervor. In den 1970er und 1980er Jahren überrascht Mastroianni mit der Darstellung ungewöhnlicher Rollen unter der Regie Ferreris, Scolas, Fellinis und Angelopoulos’. 1987 Jahre wird er für „Oci Ciornie“ mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet.
Mit dem Tod Federico Fellinis im Oktober 1993 verliert Mastroianni seinen bedeutendsten Kollegen beim Film. Marcello Mastroianni stirbt am 19. Dezember 1996 in Paris.

13 Filmographie (Auswahl)
1954 – Cronache di poveri amanti, Regie: Carlo Lizzani
1957 – Le notti bianche, Regie: Luchino Visconti
1960 – La dolce vita, Regie: Federico Fellini
1963 – Otto e mezzo, Regie: Federico Fellini
1968 – Amanti, Regie: Vittorio DeSica
1973 – La grande abbuffata, Regie: Marco Ferreri
1978 – Ciao maschio, Regie: Marco Ferreri
1987 – Der Bienenzüchter, Regie: Theo Angelopoulos
1987 – Oci Ciornie, Regie: Nikita Michalkov
1989 – Che ora è?, Regie: Ettore Scola

Anmerkungen:

(1) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, (dtv, München 1998) 37.

(2) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 32.

(3) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, Nachwort, 169.

(4) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 13.

(5) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 31.

(6) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 15.

(7) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 61.

(8) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 9.

(9) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 94.

(10) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 94-95.

(11) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 94.

(12) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 10.

(13) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 125.

(14) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 54.

(15) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 152.

(16) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 132.

(17) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 146.

(18) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 156-157.

(19) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 157.

(20) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 64.

(21) Aus: Leo der letzte, Regie: John Boorman, In: Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 17.

(22) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 11.

(23) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 18.

(24) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 54.

(25) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 163.

(26) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 45.

(27) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 11.

(28) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 43.

(29) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 92.

(30) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 163.

(31) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 19.

(32) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 166.

(33) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 102-103.

(34) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 161.

(35) Mastroianni, Ja, ich erinnere mich, 164.

Literatur:

George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt 1997.

Andrew Spicer, Typical Men. The Representation of Masculinity in Popular British Cinema, London 2001.

Michael Meuser, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Opladen 1998.

Wolfgang Schmale (Hrsg.), MannBilder. Ein Lese- und Quellenbuch zur historischen Männerforschung, Berlin 1998.