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Zitieren Sie diesen Text bitte folgendermaßen:

Hammerer, Lieselotte:

Analyse von Franz Michael Felders Autobiographie; Aus meinem Leben. In: Webportal für die Geschichte der Männlichkeiten des Instituts für Geschichte der Universität Wien,

http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/maennergeschichte/biographien/felder_01.htm


Franz Michael Felder (1839 - 1869),

"Aus meinem Leben"

 


Als Franz Michael Felder 1869 seine Autobiographie abschloss, war er bereits ein anerkannter Schriftsteller, dessen beide Romane "Sonderlinge" (1867) und "Reich und Arm" (1868) veröffentlicht waren, ebenso Erzählungen, sozialkritische Schriften und Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften. Dennoch war für ihn - wie ein Jahrhundert früher für Ulrich Bräker - Schreiben nur ein Nebenberuf. Beide waren Autodidakten, Felders Hauptberuf war Bauer. Der Anlass, seine Lebensgeschichte zu schreiben, war eine tragische Zäsur in seinem Leben, der frühe Tod seiner geliebten Frau Nanni. Mit der Arbeit an seiner Selbstbiographie fing er an "mehr und mehr wieder aufzuleben"[1] (S. 186), das Schreiben wurde ihm in der schweren Zeit der Trauerarbeit "zum festen Punkt, an dem ich mich zu halten suchte" (ebd. S. 220). Wie Ulrich Bräkers Lebensgeschichte entstand die Autobiographie Felders also in einer Zeit einer schweren menschlichen Krise. Felders erste Reflexionen über sein Leben begannen mit Tagebuchaufzeichnungen, seiner "Welt des Herzens" (S.175). Dort versuchte er seine Klagen über die "hiesige Gesellschaft" (S. 229) niederzuschreiben und "die Quelle des Unmutes so stark fließen [zu] lassen, dass sie gar bald versiegen musste, und dann klein und lächerlich erschien, was mir vorher unerträglich war" (S. 226).
Felder kritisiert die Erziehungsmaßnahmen der bäuerlichen Eltern seiner Zeit, deren "ganze Erziehung einzig nur darauf hinausgeht, im zweiten Jahrzehnt ja mit dem Kind wieder so viel hereinzubringen, als das erste seines Lebens an Barem und die Erziehung oder vielmehr Abrichtung, an Zeit gekostet haben mag" (S. 28). Seine Eltern jedoch umgaben ihn mit "vielleicht nur zu vieler Sorgfalt" (ebd.). In der engen, dörflichen Welt des Bregenzerwaldes wird Abweichen von der Tradition als ungewöhnliches Verhalten gebrandmarkt. So bleibt Felders Vater der Arbeit fern, um seiner Frau bei der Geburt beistehen zu können, was die öffentliche Dorfmeinung als "schlimme Vorbedeutung" (S. 19) ansieht.
Die Dorfgesellschaft achtet Schule und Lernen gering. So "muss es der Lehrer fast für eine Gnade halten, dass man ihm auch diejenigen Kinder zuschickt, die anderwärts einen Kreuzer verdienen könnten" (S. 54). Felders Vater dagegen reagiert auf das Vorlesen der ersten gedruckten Zeilen durch seinen Sohn, indem er ihn küsst. Solche Zeichen der Zuneigung waren etwas ganz Besonderes, wie Felder auch in seiner Erzählung "Liebeszeichen" (1868) betont. Lesen und Lernen galt für einen tüchtigen Mann nach der öffentlichen Meinung als unnütze Zeitverschwendung, man wollte keinen klugen Kopf, "keinen aufgeklärten Sonderling, sondern einen nützlichen Menschen" (S. 57). Felder erkannte früh, dass alle im Dorf vom Urteil der öffentlichen Meinung abhängig waren und alles um des "lieben Scheines wegen" (S. 227) taten, um des Beifalls des Bürgermeisters sicher zu sein oder sich nicht dem Zorn des Pfarrers auszusetzen. Als Achtjähriger konnte Felder in der Sonntagsschule, die alle Jugendlichen vom 14. bis 24. Lebensjahr nach der Pflichtschule besuchen mussten, Fragen über den Katechismus und über die Sonntagspredigt beantworten, während von den Jugendlichen niemand eine Antwort wusste. So wurde er zu einer "öffentlichen Persönlichkeit" (S. 59).
Seine Behinderung - er sieht auf einem Auge schlecht, das andere wurde durch einen betrunkenen Arzt, der dem Kleinkind das falsche Auge operiert hatte, verdorben - hielt ihn nicht davon ab zu zeigen, dass er der "kühnste, der gewandteste" (S. 28) unter seinen Spielkameraden sein wollte, den die Bewunderung der Eltern "zu immer noch kühneren Wagnissen getrieben hatte" (ebd.). Als er eine Tanne erklettert, um den Mädchen "Tannenkühe"(Tannenzapfen, S.30) herunter zu schütteln, hat er "zum ersten Mal im Leben die Empfindung, dass ich ein Mann sei" und wirft drei Buben, die den Mädchen die Tannenzapfen streitig machen, "nieder mit einer Kraft und Gewandtheit, über die ich selber noch erstaunter war als die anderen" (ebd.).
Dem hegemonialen Männlichkeitskonzept, das langsam auch ein so abgelegenes Dorf wie Schoppernau im hinteren Bregenzerwald erreichte, entsprach Felder jedoch schon als Jugendlicher nicht mehr, ebenso wie er die Stellung, die ihm als Kleinbauer in der Gemeinde zugewiesen wurde, nicht akzeptieren wollte. Als Knabe ließ er sich zwar auch von der Kriegsbegeisterung des Jahres 1848 mitreißen und ahmte mit anderen Kindern, zu deren Hauptmann er gewählt wurde, das Exerzieren der jungen Burschen des Dorfes "unter der Aufsicht eines ausgedienten Kaiserjägers" (S. 69) nach. Aber viel mehr befriedigte ihn die Tatsache, dass während der Ereignisse des Revolutionsjahres das Lesen von Zeitungen in der öffentlichen Meinung nicht mehr als Zeitverschwendung galt und das Gelesene in Gesprächen diskutiert wurde (Vgl. S. 69f). Felder schreibt auch über das Jahr 1859, aber nicht in militärischer Begeisterung, sondern er kritisiert die politischen Ereignisse in seinem Tagebuch; er wagt sie vorerst nicht öffentlich auszusprechen. Als die einheimischen Geistlichen von der Kanzel den Krieg in Italien als Religionskrieg bezeichnen, um die ländliche Bevölkerung in Kriegsbegeisterung zu versetzen, übt er Kritik am "guten Einvernehmen zwischen Staat und Kirche" (S. 254) sowie an der weltlichen Herrschaft des Papstes. Am 18. Juni 1859 schreibt er in sein Tagebuch ein Gedicht "Geheimste Soldatengedanken", das sich pazifistisch mit dem Krieg und dem Feind beschäftigt. Er schließt: "Ich seh' als Gegner mancher Mutter Kind, doch nur gezwungen geht's der Fahne nach" (S. 256).
Vor allem sieht er den großen wirtschaftlichen Schaden durch den Krieg für sich und die anderen Bauern, die von den Lechtaler Käsehändlern völlig abhängig sind. Diese Abhängigkeit versucht er zu bekämpfen, indem er sich als Gemeindevertreter aktiv politisch betätigt und das Genossenschaftswesen entwickelt. Er gründet eine Viehversicherungsanstalt und beschließt mit seinem Schwager, Kaspar Moosbrugger, 1866 die Gründung der "Vorarlbergischen Partei der Gleichberechtigung". Aber immer wieder muss er gegen das "verknöcherte Bauerntum mit seinen verschiedenartigen Vorurteilen" (S. 250) ankämpfen. So ist das Wort ‚Sonderling' genau so wie ‚öffentliche Meinung' ein Leitmotiv seines ganzen literarischen Werkes, nicht nur seiner Lebensgeschichte. Felder stellt sich außerhalb des fest umrissenen bäuerlichen Männerbildes, auch wenn er immer wieder um Anerkennung wirbt.
In Felders Selbstbiographie nehmen Lesen und Lektüre einen wichtigen Platz ein. Als er starb, hinterließ er etwa 700 Bücher, die er unter großen finanziellen Entbehrungen erworben hatte. Zunächst bestellte er Zeitungen und Zeitschriften. Seine erste Zeitung, eine Nummer des "Dorfbarbiers", bekam er, weil der Krämer darin Seife einpackte. Seine zweite Zeitung war "Die Gartenlaube". Da im Dorf vorher nur der Vorsteher, der Lehrer und der Pfarrer Zeitungen bestellt sollten, die mit großer Verspätung vom Postamt Bezau abgeholt wurden und nach Lesen und Zensur an andere Dorfbewohner Tage später weitergereicht wurden, war das Bestellen einer Zeitung durch einen jungen Burschen eine Anmaßung und ein Bruch mit jeder Tradition. Mit den Zeitungsabonnements begann Felder Lesegesellschaften um sich zu sammeln. Es kam zu Vorleseabenden und man kann sagen, dass alle mitmenschlichen Beziehungen Felders in engem Zusammenhang mit dem Lesen und dem Gespräch über Gelesenes oder Geschriebenes stehen. Das Lesen aber schloss ihn immer mehr aus der praktischen dörflichen Gemeinschaft aus, in der er sich als Fremder und Außenseiter fühlte. Aber in der Stadt - dies zeigt sein Besuch in der Buchhandlung in Lindau - empfand er seine Mundart als Sprachbarriere und seine Kleidung als ärmlich. Er fühlte "dass wir Bregenzerwälder nicht nur durch unsere Berge, sondern viel mehr noch durch Erziehung und Gewohnheit von der Welt abgeschlossen waren" (S. 95). Im Dorf fiel er mit dem neuen Anzug, den er in Bregenz gekauft hatte, negativ auf, "die fremde Kleidung war gleichsam eine Mauer geworden" (S. 198), die ihn von den Mitmenschen trennte. Auf der Alpe in Hopfreben gelang es ihm "mit Torheiten den Riss zu überbrücken" (S. 207), aber sobald er wieder "seinen Büchern zueilte", wurde die "Brücke" (ebd.), die er zu den anderen gesucht hatte, wieder weggerissen. Diese Metapher leitet schon auf die entscheidendste Zäsur in Felders Leben hin: Seinen Sturz beim Viehtreiben von der zusammenbrechenden Brücke in die Bregenzerache, dem kathartischen Ereignis, das sein Verhältnis zu den Menschen des Dorfes verändert, ihn läutert und ihn und Nanni erkennen lässt, dass sie zusammengehören und heiraten wollen. Nanni, der Felder kurz nach der Vollendung seiner Selbstbiographie, weniger als ein Jahr später im Tode nachfolgt, war ihm eine ebenbürtige Gefährtin. Sie lenkte und erzog ihn, sie "hatte durch Lesen ihr Geistesleben bereichert, ohne dass sie sich darum dem Alltäglichen abwandte" (S. 215). Durch sie und ihre Familie erkannte Felder, "dass eine bessere Ausbildung nicht unfähig mache, in meiner Heimat nach der Väter Weise zu leben und zu arbeiten" (S. 223f). 80 Jahre früher stilisierte Bräker seine Ehefrau zu einer ‚Dulcinee' und zänkischen ‚Xantippe', in der Bräkers Lesewut Ekel und Widerwillen gegen jedes Buch erweckte. Nanni dagegen förderte ihren Mann und bestärkte ihn in seiner Berufung als Dichter und Bauer.
Felders Männer- und Frauenbild entsprichen eher dem der Aufklärung als dem des 19. Jahrhunderts, in dem er lebte. Die Frau wird jedoch als Teilhaberin der Verhältnisse des Mannes, ja sogar als seine Erzieherin gesehen, die frei und eigenständig denkt. Nanni Moosbrugger, Felders Frau, schreibt auch Gedichte und Tagebücher und liest mit Begeisterung die Bücher ihres studierten Bruders Kaspar. Felder selbst löst sich von der traditionellen Rolle des Bauern, er sieht sich als Außenseiter, als Dichter. Die Aufweichung der Standesgrenzen durch autodidaktische Bildung - er ist im Briefwechsel mit Akademikern - und harte Auseinandersetzungen mit Pfarrer Rüscher wegen der von Felder gegründeten Leihbibliothek des Handwerkervereins - all das sind verspätete Auswirkungen der Aufklärung, die sich im hinteren Bregenzerwald erst mit zeitlicher Verschiebung durchsetzt. Schon früh hinterfragt Felder die kirchliche Moral, die den Menschen ihr Unglück als Strafe für ihre Sünden erklärt. Als Felder 10 Jahre alt ist, stirbt sein Vater plötzlich und er bleibt mit seiner Mutter und dem Gottle, der unverheirateten jüngeren Schwester des Vaters, zurück, die vier Jahre später stirbt. Er kann das fromme Gottvertrauen der Mutter nicht teilen, er ist voll Unruhe und Zweifel: "Alle waren frommer und glücklicher als ich" (S. 95). Die Biographie liest sich in manchen Teilen wie eine Selbstanalyse, die auch die dunklen Seiten bis zu Suizidgedanken nicht ausspart. Das entspricht Rousseau, der in seinen Memoiren "Les confessions" am Ende des 18. Jahrhunderts sein Innerstes enthüllt und ‚Transparenz der Herzen' fordert oder Goethes "Leiden des jungen Werther".
Felder schließt den 1. Teil seiner Selbstbiographie, deren 2. Teil ihm nicht vergönnt war zu schreiben, da er noch vor Vollendung seines 30. Lebensjahres starb, mit der Erkenntnis, "dass das Schicksal den Menschen nur darum zuweilen zu verfolgen scheint, damit er etwas von dem belastenden Gepäck abwerfe und umso schneller und sicherer einem seiner würdigen Ziele entgegen komme" (S. 288).

Anmerkungen:

[1] Franz Michael Felder, Briefwechsel mit Kaspar Moosbrugger 2.Teil. Bearbeitet von Eugen Thurnher. Sämtliche Werke Bd. 6 (Bregenz 1972)186 u. 220.
Alle anderen Seitenangaben beziehen sich auf Franz Michael Felders Autobiographie: Aus meinem Leben. Bearbeitet von Walter Strolz. Sämtliche Werke Bd. 4, ed. Franz Michael Felder-Verein (Bregenz 1974).

Literatur:

Felder, Franz Michael: Aus meinem Leben. Bearbeitet von Walter Strolz. Sämtliche Werke Bd. 4, ed. Franz Michael Felder-Verein (Bregenz 1974).

Moosbrugger, Maria Katharina: Autobiographie und gesellschaftliche Situation - Ein Vergleich von zwei Autobiographien aus dem Bodenseegebiet ( unveröffentlichte Hausarbeit, Salzburg 1981).

Felder, Franz Michael: Sämtliche Werke. Bde. 1 - 8 (Bregenz 1974 - 1979).